"Wiener Zeitung": In Sachen Klimaschutz gab es im Verkehrssektor in den letzten Jahrzehnten die wenigsten Fortschritte. Bis 2050 soll Österreich hier CO2-neutral werden. Wie soll das funktionieren?
Leonore Gewessler: Tatsächlich ist der Verkehrsbereich in der Klimaschutzbilanz unser Sorgenkind. Hier verzeichnen wir in den letzten Jahren stetig steigende Emissionen. Aber der Klimaschutz ist in Österreich insgesamt eine große Aufgabe. Deswegen geht unser Regierungsprogramm noch einmal über die Festlegung vorheriger Regierungen hinaus. Wir wollen bis 2040 klimaneutral sein. Das ist ein wirklich ambitioniertes Ziel, und das betrifft alle Sektoren, die Industrie, die Landwirtschaft oder den Gebäudebereich - aber der Verkehrssektor ist natürlich besonders gefordert. Genau dort müssen wir uns ansehen, wie das Mobilitätssystem der Zukunft aussehen kann.
Wir alle wollen mobil sein, in der Arbeit, in der Freizeit, beim Reisen. Aber was braucht es, damit wir das so klimafreundlich und gleichzeitig so bequem und leistbar wie möglich gestalten können?
Eine zentrale Frage lautet: Wie schaffen wir es, manche Wege zu vermeiden? Wir haben jetzt gesehen, statt dem Managerflug nach Brüssel kann auch eine Videokonferenz funktionieren. Manche Wege werden wir in Zukunft dank Digitalisierung vermeiden können. Es geht aber auch darum, wie wir es schaffen, möglichst viele Wege mit umweltfreundlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen und den Individualverkehr möglichst klimaschonend zu gestalten. Hier wird das E-Auto sicherlich eine große Rolle spielen.
Welche Rolle genau?
Wenn es im Bereich des Individualverkehrs darum geht, wie das Auto der Zukunft aussehen soll, dann ist die Zukunft dort das E-Auto. Aber es wird in diesem Verkehrssystem eine andere Rolle spielen als derzeit der Diesel-PKW. Man wird auch vermehrt über andere Verkehrsmittel nachdenken müssen, wie den öffentlichen Verkehr und Lösungen im Bereich des Mikro-ÖV, von Sammeltaxis bis hin zu Gemeindebussen. Wir werden in Zukunft gut und umweltfreundlich mobil sein, aber wir werden anders mobil sein als wir es jetzt sind.
Zukünftig soll also nicht mehr jede und jeder einen PKW besitzen ...
Es ist wichtig hier vom Bedürfnis her zu denken. Das Bedürfnis ist, mobil zu sein. Das wollen wir alle. Die Aufgabe der Politik ist es, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass alle von uns, möglichst umweltfreundlich, möglichst effizient und möglichst leistbar unterwegs sein können. Deswegen liegt ein großer Fokus auf dem Ausbau der Infrastruktur, auch der E-Mobilitätsinfrastruktur. Dann gibt es Konzepte, bei denen man sich Autos teilt oder bei Bedarf mietet. Hier kann man Vieles ausprobieren.
Dieses Jahr war rund jede dritte Neuzulassung ein SUV, 4,5 Prozent der Neuzulassungen waren E-Autos. Wie wollen Sie die Stromer zukünftig attraktiver machen?
Die guten Neuigkeiten sind, dass im ersten Quartal 2020 der Anteil der E-Auto-Zulassungen doppelt so hoch war wie im Jahr davor. Dass wir hier noch einen weiten Weg haben, um die Individualmobilität emissionsfrei zu machen, ist dennoch klar. Ein wichtiger Bereich ist die Frage der Ladeinfrastruktur, im öffentlichen wie im privaten Bereich. Derzeit arbeiten wir an einer Initiative zum Right to Plug. Hierbei soll es einfacher werden, in Mehrfamilienhäusern E-Ladestationen zu installieren. Das Budget zur Förderung von E-Mobilität haben wir nun auf 44 Millionen Euro aufgestockt, das sind 26 Millionen Euro mehr als im letzten Jahr. Damit können wir mehr für Betriebe, Gemeinden oder Private, die auf ein E-Auto umsteigen wollen, machen. Im Rahmen des Regierungsprogramms wollen wir über eine ökologische Steuerreform die Nutzung von E-Mobilität begünstigen und dazu beitragen, dass große Flotten auf E-Mobilität umgestellt werden. Das ist einer der wirkungsvollsten Hebel, um die E-Mobilität in der Breite zu fördern.
Bei der Herstellung eines E-PKW sind die Emissionen ungefähr doppelt so hoch wie bei einem Verbrenner und ein E-Auto ist auch nur dann wirklich klimafreundlich, wenn es mit grünem Strom betrieben wird. Wie groß ist denn der tatsächliche Beitrag der E-Mobilität zum Klimaschutz?
Alle Analysen zeigen: Egal mit welchem Strommix schneidet das E-Auto über einen Lebenszyklus besser ab als der Verbrenner. Auch wenn man die Herstellung miteinrechnet, ist das E-Auto für den Klimaschutz die bessere Wahl, und wenn wir an PKW-Mobilität denken, ist das E-Auto die effizienteste Wahl.
Kann die Corona-Krise für die Ökologisierung des Verkehrssektors auch eine Chance sein?
Die derzeitige Krise ist sicherlich eine Ausnahmesituation. Was wir in dieser Zeit gesehen und gespürt haben, ist, wie sich Krise anfühlt. Jetzt geht's auf dem Weg aus der Corona-Krise darum, die nächsten drohenden Krisen zu vermeiden, Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise, aber auch die Klimakrise. Wenn wir uns ansehen, mit wie viel Mut, Entschlossenheit und Solidarität wir die Ausbreitung des Virus eingedämmt haben - wenn wir davon einen großen Teil mitnehmen in die Bewältigung der nächsten Krisen, dann haben wir sehr viel gewonnen. Corona haben in den Griff bekommen mit Konsequenz, Durchhaltevermögen und hoffentlich bald auch einer Impfung. Aber gegen die Klimakrise gibt es keine Impfung, deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt aktiv werden. Und das machen wir auch, das machen wir in Europa und das machen wir national, indem wir Konjunkturpakte zur Stabilisierung der Wirtschaft und der Sicherung von Arbeitsplätzen so ausrichten, dass sie auch dem Klimaschutz dienen. Dabei ist der Verkehr natürlich ein wichtiger Sektor. Den ersten Teil dieses Pakets haben wir schon präsentiert, ein Investitionspaket von 300 Millionen Euro in den öffentlichen Verkehr. Gerade Investitionen in den öffentlichen Verkehr sichern Arbeitsplätze vor Ort, garantieren eine bessere Verkehrsanbindung und tragen zum Klimaschutz bei. Aufgrund dieser doppelten Dividende liegt bei den aktuellen Konjunkturpaketen ein großer Fokus auf dem Klimaschutz.
Wie groß ist andererseits angesichts von Rekordarbeitslosigkeit und Rezession die Gefahr, dass der Klimaschutz zum Luxusproblem wird und in den Hintergrund treten muss?
Diese Gefahr sehe ich nicht. Wir hatten jetzt wieder einen der trockensten Frühlinge der letzten Jahrzehnte. Wir haben während der Corona-Krise nun oft diskutiert, ob wir genügend Erntehelferinnen und -helfer haben, um die Ernte einzubringen. Wenn wir nichts gegen die Klimakrise tun, wird die Frage sein, ob wir überhaupt noch etwas ernten können. Viele Menschen spüren das und wissen das. Ich bin fest davon überzeugt, dass Klimaschutz das beste Konjunkturprogramm ist, denn das sind Investitionen in regionale Strukturen, in heimische Wertschöpfung, in kürzere Transportwege, in zukunftsfähige Technologien. Das ist nicht nur jetzt eine Hilfe, sondern auch ein großer Benefit für die Zukunft. Wenn wir beispielsweise jetzt in den erneuerbaren Energieausbau investieren, macht uns das für die Zukunft krisenfester, weil wir heimische, erneuerbare Ressourcen haben, auf denen wir unser Energiesystem aufbauen.
Leonore Gewessler in ihrem Büro im Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie im 3. Bezirk in Wien. - © Heidrun HenkeWerden alle derzeit 600.000 Arbeitslosen solche zukunftsfähigen Jobs finden? Der Jobmarkt bietet viele Angebote, die alles andere als ökologisch und zukunftsfähig sind.
Wir müssen einerseits den Weg aus der Krise nutzen, um die Weichen richtig zu stellen. Anderseits ersetzen Krisen keine Klimapolitik und keine nachhaltige Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik. Die Aufgaben, langfristig die Weichen richtig zu stellen, sind in der Corona-Krise und nach der Corona-Krise wichtig.
Bisher haben wir, wenn wir von Klimaschutz sprachen, größtenteils über Anreize und Förderungen für die Wirtschaft gesprochen. Entmachtet sich die Politik dadurch nicht ein Stück weit selbst?
Ganz im Gegenteil. Dass Österreich bis 2040 klimaneutral sein soll, ist ein großes Ziel, und es wird dafür den gesamten Instrumentenkoffer brauchen. Da braucht es gesetzliche Rahmenbedingungen, aber auch Förderungen, da braucht es Forschung in Bereichen, in denen wir noch nicht so weit sind, beispielsweise der dekarbonisierte Schwerverkehr. Das heißt, wir werden den gesamten Instrumentenkoffer brauchen und ja, dabei wird es auch gesetzliche Rahmenbedingungen brauchen. Die EU-Vorgaben für die Emissionen von Fahrzeugflotten einzelner Autohersteller sind ein wirklich gutes Beispiel dafür, wie solche Rahmenbedingungen eine wirtschaftliche Transformation voranbringen können. Einer meiner ersten öffentlichen Auftritte als Ministerin war auf einer Automesse, wo ich den E-Mobilitätsbereich eröffnen durfte. Es gibt hier eine Vielzahl von neuen Modellen, mit immer mehr Reichweite, auch die Preisentwicklung geht nach unten. Das ist ein Effekt davon, dass es klare Rahmenbedingungen und klare Ziele gibt.
Machen wir es konkreter: Wäre für Sie auch eine autofreie Wiener Innenstadt denkbar?
Die Frage, wie sich Städte entwickeln und wie Städte Mobilität denken, ist eine spannende und wichtige Debatte, denn man kann in Städten ganz viel ausprobieren. Brüssel probiert zum Beispiel gerade aus, Radfahren und Zufußgehen als priorisierte Fortbewegungsart in der Innenstadt zu etablieren. London, Paris, auch Wien, haben mit autofreien Straßen erste Schritte gemacht. Gerade in Städten kann man sehr viel Zukunft probieren.
Sie kommen eigentlich aus der Zivilgesellschaft, waren jahrelang politische Geschäftsführerin der Umweltschutzorganisation Global 2000 und haben jetzt die Seite gewechselt. Gibt es Tage, an denen Sie gerne wieder Ihren alten Job hätten?
Ich habe meinen alten Job sehr geliebt, aber trotzdem ist die Antwort Nein. Bei Global 2000 hatte ich sehr oft kritisiert, dass beim Klimaschutz zu wenig weitergeht. Wenn ich jetzt selbst die Möglichkeit habe, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich das ändert, dann mache ich das, voller Energie und einer großen Freude. Das waren sicher außergewöhnliche erste 100 Tage, aber sehr spannende.