Man hätte es kommen sehen müssen. Damals schon. Als Manfred Weber im EU-Wahlkampf für weniger Plastikmüll plakatierte. Und als plötzlich alle für Bienen und Blüten einstanden - die Ökos von der CSU. Ende Juli konnten sich dann einige Grüne wohl nur noch mit Mühe in den Birkenstock halten: Als Söder zur „Öko-Offensive" blies - Bayern als Vorreiter deutscher Klimapolitik! Was ist da los? Der CSU und dem Gros der Konservativen in Deutschland im Allgemeinen dämmert langsam, dass sie erstmals seit über 70 Jahren vor Herausforderungen stehen, die sich mit Mitte und Vermittlung, Maß und Mäßigung nicht lösen lassen werden.
Seit ihrer Gründung symbolisieren die deutschen Christdemokraten die Mitte. Die Union, das ist Ausgleich, Vernunft, Sicherheit, Stabilität - auf ewig. Während alle anderen links und rechts herum viel zu radikal agieren, schafft es die Partei der Mitte stets aufs Neue, die Streithähne zu versöhnen. Die CDU, das ist die „Maß-und-Mitte-Kirche-im-Dorf-Partei", wie Bernd Ulrich das in der ZEIT jüngst formulierte (ZEIT No. 24/19).
Stolzer Blick auf die eigene ideologiebefreite „Schau'ma mal"-PolitikEs liegt im Wesen des Konservativen, etwas bewahren zu wollen. Also immer auch erst die anderen agieren zu lassen, um dann selbst zu reagieren. Wo noch nichts ist, gibt's auch nichts zu bewahren. Der eigene Wertekompass orientiert sich stets an etwas Anderem, den anderen Wählerinnen und Wählern, den Themen der anderen - und natürlich den anderen Parteien. Auf diese ideologiebefreite „Schau'ma mal"-Politik blickt man nicht selten mit Stolz. Schließlich ist die Mitte immer das Maß - das Maß der Mitte eben. Volkspartei, das bedeute immer auch: Man braucht die Fühler nur ausstrecken, um zu erahnen, was der gesellschaftliche Durchschnitt gerade denkt, sagt und will - und seine Politik danach ausrichten.
Dass den konservativen Parteien derzeit ein ähnliches Schicksal droht wie der SPD, liegt daran, dass es heute eben nicht mehr reicht, bloß Mitte zu sein. In Sachen Klimakrise einfach nur zwischen Grünen und AfD zu vermitteln, weil man beide auf ihre Weise als zu radikal erachtet, ist fatal. Das Maß der Mitte mündet in diesem Fall in einer Katastrophe.
Das Konservative innerhalb der Union war seit jeher auch mit einem Widerspruch verbunden: Man versuchte gesellschaftliche Veränderungen möglichst zu verlangsamen und - gleichzeitig - an deren Spitze zu stehen. Das mag in der Kombination von Wirtschaft und Kultur noch einigermaßen reibungslos funktionieren. Aber wer, wie die CDU, jahrzehntelang wie keine andere Partei massiv für die Förderungen von Atomkraftwerken und Braunkohle eintritt und ihr Dasein zu großen Teilen der Automobilbranche widmet, wird irgendwann einmal Probleme haben, die eigentlich konservativ-christliche Idee zu vermitteln: Die Bewahrung der Schöpfung. Irgendwann, heute.
Ja dürfen's denn des?Symptomatisch fiel dann auch die Antwort aus, als im Rahmen der Fridays-For-Future-Bewegung erstmals Schüler freitags lieber streikten, als die Schulbank zu drücken: Schule schwänzen für den Klimaschutz? Darf man denn das? Ist das nicht zu radikal? In ihrer Verdutztheit fiel vielen Konservativen offenbar nicht mehr ein als das Beharren auf Recht und Ordnung. Natürlich dürfen sie das nicht, die Gesetzesübertretung ist ja gerade das Kernelement zivilen Ungehorsams! Hätte man, hätte die Union die Klimaerhitzung nicht über Jahrzehnte hin schlichtweg versäumt, ja ignoriert, gäbe es auch keine Notwendigkeit zu streiken. Die Reaktionen auf die Streikbewegungen zeigen, wie schwer sich Konservative tun, wenn plötzlich - der menschgemachte Klimawandel ist mindestens seit den 1960ern empirisch nachgewiesen - eine Vision gefragt ist.
Ebenso: Seitdem CSU und CDU klar wurde, das die „besorgten Bürger" nicht nur rechts stehen, herrscht kollektive Überforderung. Eigene Inhalte sind plötzlich gefragt, Akzente. Für eine Partei, die seit ihrer Gründung Politik ohne Politik betreibt, indem sie verwaltet, ist das eine denkbar große Herausforderung. In der Klimakrise nur zwischen zwei vermeintlichen Extremen zu vermitteln, ist schon deshalb schwierig, weil das eine Extrem so extrem gar nicht ist - sondern wissenschaftlich in vollster Fülle belegt: Ein bisschen hier, ein bisschen da, nur nicht zu arg und Phrasen wie „ja, aber die Wirtschaft" und „ja, aber das Soziale" - das reicht eben nicht mehr.
SPD: Zwar kaum noch Wähler, aber immerhin noch eine IdeologieKonservativ sein, der Versuch zu bewahren, heißt in diesem Fall: Einen Schritt zu spät sein. Bewahren lässt sich immer nur das, was bereits im Vergehen begriffen ist. Aber um heutzutage zu bewahren, muss man gegenwärtig versuchen in die Zukunft einzugreifen - eine dem Konservatismus zutiefst fremde Idee. Bloß auf das Moderate und Mäßigende zu verweisen, während einem ringsum der Laden um die Ohren fliegt, war noch nie ein guter Einfall. Das gilt nicht nur für die Klimakrise, sondern genau so für andere gesellschaftliche Herausforderungen: Digitalisierung und der Wandel der Arbeitswelt, Globalisierung und Migration, Medizin und Ethik.
Man möchte meinen, die Union ereilt derzeit ein ähnliches Schicksal wie die SPD. Das scheint jedoch nur auf den ersten Blick so. Die SPD war schon immer eine Partei, die eine Ideologie verfolgte. Woran die SPD derzeit krankt, ist, dass ihr dazu passendes Wählerklientel gerade aufhört zu existieren: einfache Industriearbeiter. Die CDU hatte noch nie eine Ideologie. Maß, Mitte und Vermittlung waren erfolgreiche Methoden, Politik zu betreiben und Wahlen zu gewinnen. Aber Maß, Mitte und Vermittlung sind keine Inhalte. Diese nun so mir nichts, dir nichts aus dem Hut zu zaubern, klingt nach einer großen Herausforderung...