via PEN-Club, in "Lebenswege, Heldentaten von Kindern und Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus", Hrsg.: Davyd Rozenfeld, Cornelsen Verlag, 2012
An Deutschland hat sie auch gute Erinnerungen: das Oktoberfest, das Schwimmen in der Isar, die Sonntagsausflüge mit ihren Eltern. Und vor allem die Oper. Schon mit 15 stellt sich Bertha Leverton frühmorgens an, um Karten zu ergattern.
"Ich war in England nie wieder in der Oper seitdem, ich will nicht. Das war so schön damals. Bei "Aida" kamen richtige kleine Elefanten auf die Bühne, die waren vom Zirkus Krone ausgeborgt. Die Erinnerungen sind so stark und so genau - ich wäre so enttäuscht, wenn es dann nicht wieder genau so wäre."
Seitdem, das heißt: Seit dem 4. Januar 1939, jenem Tag, an dem ihre Eltern sie zum Bahnhof bringen. Ihren kleineren Bruder hat Bertha an der einen Hand, einen kleinen Koffer in der anderen. Ein Beamter versiegelt am Bahnhof ihr Gepäck. "Die Nazis wussten von den Transporten, natürlich", erinnert sich Bertha Leverton. "Am Anfang wollten die Deutschen die Juden einfach nur raus haben, denen hätt's gar nichts ausgemacht, wenn alle Juden ausgewandert wären. Aber kein anderes Land hat sie ja reingelassen." Bis auf den Bahnsteig dürfen die Eltern nicht mit; sie verabschieden sich in der Bahnhofshalle. Die Eltern weinen nicht, auch Bertha und ihr Bruder nicht, nicht einmal ihre jüngere Schwester Inge, die zurückbleiben muss. Sie sind sicher, einander bald wiederzusehen: "Wir haben gedacht, Deutschland wird sich wieder ändern und wir können zurückkommen nach München. Das war ja eine schöne Stadt. Das Glockenspiel, das geht mir nach, die Feldherrenhalle, das Taubenfüttern im Englischen Garten." Doch die Familie wird nie zurückkehren.
Bertha und ihr Bruder sind zwei von rund 10 000 Kindern, die zwischen 1938 und 1940 vor dem NS-Regime gerettet werden. Aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen holt die britische Regierung Kinder nach London. Aber nicht mehr als zwei pro Familie - so lautet die Vorgabe. Offen wird darüber nicht gesprochen. Doch Inge hat die Information im Kindergarten aufgeschnappt und erzählt von einem Mädchen, die bald nach England reisen soll. "Meine Mutter dachte, sie fabuliert - doch mein Vater wurde hellhörig." Er spricht mit den Eltern von Inges Freundin, setzt durch, dass zwei seiner Kinder mitfahren dürfen. Und nur wenige Monate später bekommt er die Erlaubnis, auch seine jüngste Tochter nach England zu schicken.
Die Eltern sind nicht reich. Der Vater betreibt ein kleines Lederwarengeschäft; einen Rucksack hat Bertha Leverton heute noch. Als die Politik der Nazis immer judenfeindlicher wird, kauft niemand mehr in dem kleinen Betrieb. Die Eltern überlegen, wie sie die jüdischen Nachbarn als Kundschaft gewinnen können, und eröffnen eine Wäscherei: "Als Kind nimmt man das hin - das war ja unsere Normalität", erzählt die heute 84-Jährige.
Sorgen macht Bertha sich erst, als sie schon längst bei einer englischen Familie lebt. Zweimal in der Woche bekommt sie Post von ihren Eltern - mindestens. Für den Untermieter ihrer Gastfamilie stopft sie Socken, um Geld für Briefmarken zu verdienen. Doch plötzlich schreibt ihr Vater nur noch wenige Zeilen. "Irgendwann ist mir aufgefallen, dass der Papa nur noch Grüße an Muttis Briefe angefügt hat, Küsse, Euer liebender Papa. Einmal, zweimal, dreimal ist das nicht so schlimm. Dann aber geht es wochenlang so. Da bekam ich Angst, große Angst. Aber ich konnte ja nicht nachfragen, weil der Krieg anfing." Viel später erfährt Bertha, dass ihr Vater zu dieser Zeit in einem Arbeitslager war; die Grüße unter die Briefbögen hat er vorgeschrieben. Als er aus dem Lager entlassen wird, entscheidet seine Frau, dass sie flüchten müssen.
Drei Tage nach ihrem 21. Geburtstag erreicht Bertha ein Telegramm: Ihren Eltern ist die Flucht aus Deutschland gelungen. Ein Schleuser hat die beiden nahe Graz durch Wälder in die Schweiz gebracht. Ein paar Wochen später ist die Familie vereint. "Wir zogen in eine sehr einfache kleine Wohnung in Birmingham, aber ich war so froh. Im Buckingham Palace wäre ich nicht so glücklich gewesen wie in dieser Wohnung, zusammen mit meinen Eltern nach fünf Jahren Trennung." Die Familie bekommt häufig Besuch: "Zwei Flüchtlinge kommen über ein neutrales Land nach England - das hat Aufsehen erregt." Die jüdischen Nachbarn packen mit an: "Der eine hat ein Bett gegeben, der andere einen Tisch und einen Stuhl. Irgendwann haben meine Eltern dann von der britischen Regierung Bezugsmarken bekommen, um Betten zu kaufen, weil wir nicht genug hatten."
Heute hat Bertha Leverton selbst zwei Töchter, zehn Enkelkinder, 13 Urenkel. Und weil sie selbst Kinder hat, bewundert sie den Mut ihrer Eltern: "Ich hab mich nie weggegeben gefühlt. Meine Eltern hätten es sich nicht verziehen, so eine Gelegenheit gehabt zu haben und sie dann nicht zu nützen."
in: "Twists of fate and heroic deeds of children, juveniles and young people during the Nazi era" / publisher: Davyd Rozenfeld - Collections Search - United States Holocaust Memorial Museum, 2012
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