Berlin. Mehr Sprache als Gesang, mal zu zweit, mal zu viert, prägnante Gitarren und ein vorwärtsdrängendes Schlagzeug in Kombination mit einem Piano, das nicht nur einmal an die 80er erinnert. Kettcar spielen am Montagabend vor ausverkauftem Publikum im Columbia Theater. Eigentlich beginnt die Tour erst am 18. Januar, da spielen sie dann nebenan in der Columbiahalle.
"Aber ein Freund meinte, wir sollten vorher mal unser neues Album live spielen", sagt Frontmann Marcus Wiebusch. "Mit der Begründung, das haben Bruce Springsteen und U2 auch schon gemacht, hat er uns gekriegt." Rausgekommen ist eine Mini-Live-Tour durch Deutschlands größte Städte: Montag Berlin, Dienstag Köln, Mittwoch München, Donnerstag Hamburg. Alle Shows sind ausverkauft, bis auf München. Offensichtlich wurde das Comeback der Hamburger sehnlichst erwartet.
Hinter einem harmlos klingenden Titeln wie "Benzin und Kartoffelchips" verbergen sich die Zeilen "Heute Nacht kein Film, keine geile Zeit, Kein Erinnerungskitsch, kein Facebook-Like, Wir waren einfach nur beschissen verzweifelt, Und wussten nicht mehr weiter" - die Geschichte von jemandem, der aufgrund eines Faustschlags verurteilt wird.
Kettcar vereint mit ihrem aktuellen Album "Ich vs. Wir" zwei Dinge: Auf der einen Seite erzählen sie Geschichten, manchmal meint man mit jedem Song ein neues Reclam-Heft aufzuschlagen. Auf der anderen Seite machen sie es einem leicht, sich mit den Texten zu identifizieren, da sie ständig aktuelle Gesellschaftsthemen aufgreifen.
"Spielt mal was Neues!"Wenn man den fünf Männern in Berlin zuschaut, erinnert das eher an eine Probe als an ein Konzert. Manchmal verschwinden die Texte im Sumpf der leider nicht sehr fein abgemischten Instrumente, wovon Kettcar nichts mitzukriegen scheint. Sie sind versunken in ihre Musik, aber doch präsent und nahbar. "Spielt mal was Neues", hört man einen Zuschauer rufen. Das zieht sich durch das Konzert. Hier ruft man, was man denkt, in den stillen Sekunden zwischen den Songs.
Wenn an diesem Abend auch vor allen Dingen Titel des aktuellen Albums gespielt werden, verbirgt sich hinter dem Konzert 15 Jahre Kettcar. Da sind Elemente des Punks, des Rocks und auch des aktuellen Pops. Musikalisch durchaus voraussehbar arrangiert, aber eben auch nicht völlig der aktuellen Mainstream-Chartlist angepasst.
Nach vier Studioalben hat sich Kettcar im April 2013 zurückgezogen. Familienpause, Labelarbeit, Soloprojekte. Was Männer jenseits der 40 halt so machen, um nicht selbst an den Stammtischen oder in der Spießigkeit zu landen, gegen die sie einst sangen. Nachdem Sänger Marcus Wiebusch 2014 sein Projekt "Konfetti" verwirklicht hat, aus dem sich ein per Crowdfunding finanzierter Kurzfilm mit dem Thema Homophobie im Fußball entwickelte, beginnen Kettcar an neuen Stücken zu arbeiten.
"Sommer '89" bezieht PositionMit "Sommer '89" geben sie im Juli das Ende ihrer Pause bekannt. Ein Song, der sich klar zur Flüchtlingsthematik positioniert. "Es war im Sommer '89, eine Flucht im Morgengrauen, Es war im Sommer '89, und er schnitt Löcher in den Zaun", singen vier der fünf Männer, die nebeneinander auf der Bühne stehen. Auch, wenn der Song von einem jungen Mann, der vor dem Mauerfall sächsischen Familien bei der Flucht in den Westen hilft, handelt, ist die Aussage doch klar: Menschen sollten einander unterstützen, anstatt zu verurteilen, auszuschließen und zu diskriminieren.
Obwohl Kettcar am Montagabend nicht in der musikalischen Oberliga spielt, hat ihr Auftritt und die kommende große Tour seine Berechtigung, wenn nicht sogar seine Notwendigkeit. Sie positionieren sich, sprechen aus, was sie über die derzeitige Politik denken, werden gerne auch mal unangenehm, statt ihre Worte hinter blasigen Hülsen zu verstecken.
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