Jährlich werden Hunderte Kinder von einem Elternteil ins Ausland entzogen. Die Zahl steigt mit der Zunahme binationaler Ehen. Der andere Elternteil steht nicht nur ohne Kind da: Auch Hilfe von Gericht oder Staat endet oft an Ländergrenzen.
Vergeblicher Kampf mit den Behörden
"Das Schlimmste ist, immer wieder alleine nach Hause zu fahren", sagt Katharina nach einer ihrer vielen Reisen nach Tunesien. Es ist das Heimatland des Vaters ihrer zwei Kinder. Und es ist der Ort, an dem sich ihre Töchter seit fast drei Jahren aufhalten. Gegen den Willen der Mutter. Katharina ist Ärztin in Hannover. Sie war jahrelang mit dem Vater der Kinder verheiratet, auch nach der Trennung hatten sich beide zunächst gut arrangiert, im Sinne der Kinder. Sie war einverstanden, als er ihr vorschlug, mit den Kindern in seine Heimat zu fliegen. Um die Großeltern zu besuchen und zu sehen, wo ihr Vater herkommt. Im Sommer 2015 flogen die Mädchen - damals sechs und acht - mit ihrem Vater nach Tunesien. Und kamen seitdem nicht mehr zurück. Und das, obwohl Katharina inzwischen sowohl in Deutschland als auch in Tunesien das alleinige Sorgerecht für die Kinder hat. Aber die tunesischen Behörden setzen das geltende Recht einfach nicht durch. So oft sie kann, fliegt Katharina nach Tunesien, setzt sich mit dem Jugendamt und den Gerichten auseinander - bisher vergeblich. Besonders absurd: Der Vater sitzt seit Längerem in Hannover im Gefängnis - wegen Kindesentzug. Trotzdem verhindert er immer noch, dass die Kinder zurück nach Deutschland kommen. Sie leben in der tunesischen Provinz bei ihren Großeltern und anderen Verwandten - aber ohne ihre Eltern.
Staatliche Übereinkommen werden nicht durchgesetzt
Die Zahl binationaler Paare steigt seit Jahren stetig an. Im Zuge der Globalisierung, der Freizügigkeit innerhalb der EU, der Migration aus Drittländern und der zunehmenden Mobilität wächst die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln zueinanderfinden. Wenn diese Beziehungen auseinanderbrechen, kommt es oftmals zu Schwierigkeiten, wenn ein Partner mit dem Kind in sein Heimatland zurückkehren möchte. Etwa 20 Prozent der in Deutschland geborenen Kinder haben einen ausländischen Elternteil. Insgesamt werden jährlich schätzungsweise mehrere Hundert Kinder von einem Elternteil ins Ausland entführt. Davor steht oftmals ein erbitterter Streit ums Sorgerecht. Jürgen kommt im Sommer 2017 aus dem Urlaub zurück. Mit seiner polnischen Ex-Freundin - sie wohnt ein paar Straßen weiter - teilt er sich das Sorgerecht für den gemeinsamen vierjährigen Sohn Alexander. Kurz nach seiner Rückkehr ist eine Übergabe des Kindes geplant. Doch Frau und Sohn sind verschwunden. Alexanders Kinderzimmer ist seitdem leer. Jürgens Ex-Freundin hat ihn nach Polen verschleppt. Ein Staat mitten in der Europäischen Union, der das Haager Kindesentführungsübereinkommen unterschrieben hat. Ziel und Zweck des Übereinkommens ist es, das Kind möglichst schnell in den Staat des bisherigen Wohnsitzes zurückzubringen. Trotzdem führt Jürgen seit einem Jahr einen verzweifelten Rechtsstreit. Denn obwohl es ein Rückführungsübereinkommen gibt, scheuen sich Regierungen in solchen Fällen oft, in die Souveränität eines anderen Staates einzugreifen. Die Gerichtstermine in Polen ziehen sich, die Mutter versucht, das Verfahren so lange wie möglich hinauszuzögern.
Kampf über Ländergrenzen hinweg
Katharina setzt ihre Hoffnungen in die deutsche Politik. Sie glaubt, dass nur Druck von oben die tunesischen Behörden zu einer Handlung bewegen kann. Sie hat an alle ranghohen Politiker geschrieben, versucht, so oft es geht, ins persönliche Gespräch zu kommen und auf ihren Fall aufmerksam zu machen - bisher vergeblich. Deshalb fasst sie einen neuen Plan, wie sie ihre Kinder vielleicht endlich zurückbekommen kann. So unterschiedlich, wie ihre Geschichten sind: Katharina und Jürgen eint die Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass sie ihre Kinder irgendwann zurückbekommen. Die Hoffnung, dass ihr Kampf nicht umsonst ist. Denn als Mutter oder Vater, das sagen beide, kann man die Hoffnung nie aufgeben. Denn dies würde bedeuten, das eigene Kind aufzugeben. "37 Grad" zeigt den Kampf um das eigene Kind über Ländergrenzen hinweg, gegen Behörden, Gerichte und den Menschen, den man einmal geliebt hat.
37 Grad Autoren über ihren Film:
Gedanken von Jennifer Gunia und Christina von Saß:
Wir wohnen beide in Hannover - so wie Katharina Schmidt, eine unserer Protagonistinnen. Ihre Geschichte schlug in Hannover hohe Wellen und begegnete uns immer wieder in den Medien. So entstand die Idee zu diesem Film. Je mehr wir weiter recherchierten, desto mehr Geschichten begegneten uns von Eltern in ähnlichen Situationen. Katharina ist kein Einzelfall. Und: In vielen Fällen sind auch die Väter betroffen. So war schnell klar, dass wir außer Katharinas Geschichte auch noch einen Vater zeigen wollten, der in einer ähnlichen Situation ist. So kamen wir in Kontakt mit Jürgen. Die besondere Herausforderung in diesem Film lag darin, dass wir nicht wussten, wie er ausgehen würde. Wir trafen zwei Menschen in einer Ausnahmesituation, die beide mit aller Kraft versuchten, ihre Kinder zurück zu bekommen. So mussten wir oft auch schnell und spontan reagieren. Katharina traf ihre Entscheidungen, wann sie das nächste Mal nach Tunesien reisen wollte, immer erst ein paar Tage im Voraus. Das bedeutete für uns schnelle Entscheidungen und spontanes Kofferpacken. Dass wir überhaupt so spontan drehen konnten, war nur dank einer engagierten Producerin vor Ort möglich, die uns sehr unterstützt und viele Türen geöffnet hat. Auch Jürgen trafen wir das erste Mal kurz vor einem erneuten Prozess, bei dem er hoffte, seinen Sohn zurück zu bekommen.
Was uns besonders beeindruckt hat, ist die Hartnäckigkeit und Stärke, die beide in dieser andauernden Krise bewiesen haben. Denn obwohl es für genau solche Situationen ganz klare internationale Regeln gibt, werden diese oft nicht umgesetzt. Ist ein Kind erst einmal im Ausland, ist es für das zurückgebliebene Elternteil ungleich schwerer, sein Recht durchzusetzen. Und die Zeit spielt in diesen Fällen eine große Rolle. Denn je länger ein Kind von einem Elternteil getrennt ist, desto größer die Gefahr der Entfremdung. Wir haben in der Recherche auch mit Eltern gesprochen, die den Kampf aufgegeben haben. Katharina und Jürgen taten das nicht. Das hat uns während der Dreharbeiten immer wieder berührt. Während des Drehs und des Schnitts haben wir auch immer wieder über das "Wieso" und "Weshalb", über die Motive der "entführenden" Eltern gesprochen. Eine abschließende Antwort werden wir wohl nicht finden. Klar ist: Wie bei jeder Trennung ist die Gemengelage komplex. Nur die Folgen sind viel weitreichender. Die Kinder sehen ihre Mama oder ihren Papa unter Umständen über Jahre hinweg überhaupt nicht.