Jay McKenna ist langjähriger Anhänger des FC Liverpool, hat unzählige Auswärtsfahrten mitgemacht und ist einer der Sprecher der größten Fanvereinigung "Spirit of Shankly". McKenna ist nicht so leicht zu beeindrucken und klang doch bewegt, als er Anfang August feststellte: "Dass sich so viele Fans beteiligen, das haben wir wirklich nicht erwartet." Gemeint war eine Abstimmung der "Spirit"- Mitglieder, ob es im Stadion Anfield in Zukunft wieder Stehplätze geben sollte. 18.000 Fans stimmten ab und votierten mit 88 Prozent für eine Rückkehr der Stehtribünen.
Was jedoch nicht bedeutet, dass in nächster Zeit die Sitzschalen auf der berühmten Fantribüne "The Kop" abgeschraubt werden. Denn die Debatte über die Stehplätze ist nicht nur, aber vor allem in Liverpool untrennbar verbunden mit der Stadionkatastrophe von Sheffield 1989. Damals kamen 96 Anhänger des Klubs bei einem Pokalspiel des FC Liverpool ums Leben. Inzwischen ist geklärt, dass die Polizei viel zu viele Anhänger in einen viel zu kleinen Block lotste. Aber es waren eben auch die maroden Stehblöcke, der enge Tunnel durch den Bauch der Tribüne und der Metallzaun im Gästeblock des Hillsborough-Stadions, die für das Ausmaß des Unglücks mitverantwortlich waren.
In der Folge wurden reine Sitzplatzstadien Pflicht für jeden Klub, der in den beiden höchsten englischen Ligen spielen wollte. Der ehemalige Lordrichter Peter Taylor hatte im Auftrag von Premierministerin Margaret Thatcher das Unglück untersucht und anschließend eine Reihe von Empfehlungen ausgesprochen. Keine wurde jedoch so konsequent umgesetzt wie die Abschaffung der Stehplätze, auch weil sich Sitzplätze deutlich teurer verkaufen lassen.
In Liverpool haben sich vor allem die Hinterbliebenen der Hillsborough-Katastrophe stets entschieden gegen Stehplätze ausgesprochen. Vielen ging es wie Sue Roberts, deren Bruder Graham im überfüllten Fanblock erstickte. "Viele Ursachen haben zu der Katastrophe geführt. Aber sie wäre nicht passiert, wenn Graham gesessen statt gestanden hätte" sagte sie in einer öffentlichen Anhörung und fügte hinzu: "Deshalb ist für mich jede Einführung von Stehplätzen ein Schritt in die falsche Richtung."
Und doch wird just in diesen Tagen, da nach quälend langen Jahren und falschen Schuldzuweisungen an die Anhänger der Prozess gegen die verantwortlichen Polizisten beginnt, nicht nur an der Merseyside, sondern auch in zahlreichen anderen englischen Fußballstädten intensiv über die Rückkehr der Stehplätze debattiert.
Stimmung erinnert an Musicalaufführungen
Das hat damit zu tun, dass die Stimmung in vielen Stadien der Premier League gediegenen Musicalaufführungen nicht unähnlich ist. Wer etwa ein Ligaspiel des FC Chelsea an der Stamford Bridge besucht, merkt oftmals nicht, dass das Spiel angepfiffen wurde, so wenig verändert sich der Geräuschpegel. Und wo es aktive Fanszenen gibt, wie in Liverpool, bei Crystal Palace oder Manchester United, wird auf und zwischen den Sitzschalen trotzdem gestanden.
"Viele englische Anhänger wünschen sich Zustände wie in deutschen Stadien", sagt der englische Fanaktivist Jon Darch. Es ist kein Zufall, dass er das bei einem Freundschaftsspiel auf einer Stehplatztribüne im Babelsberger Karl-Liebknecht-Stadion sagt. Darch liebt die traditionelle deutsche Fußballkultur, wie sie vor allem in den unteren Ligen überlebt hat.
Er könnte nun derjenige sein, der die Stehplätze zurück in die englischen Stadien bringt. Der Mann aus Bristol ist nämlich ein Missionar. Seit sechs Jahren tourt er mit einem Kleintransporter durch britische Städte, um die Klubs davon zu überzeugen, in ihren Stadien wieder Stehplätze zuzulassen.
Weil die Funktionäre dann aber sofort an die Stehtribünen der Achtzigerjahre denken, an riesige Betonwälle mit vereinzelten Wellenbrechern, verrostet und mit abblätternder Farbe, hat Darch eine kleine Tribüne dabei, auf der wahlweise gesessen und gestanden werden kann. Fünf Stufen, vier Sitze, ein Aufgang, in einer Viertelstunde hat Darch die neueste Generation sogenannter Vario-Sitze aufgebaut, die hierzulande etwa in Stuttgart und Hoffenheim eingebaut sind.
Erste Vereine testen bereits wieder Stehplätze
Wo Darch auch hinkam, die Funktionäre zeigten sich aufgeschlossen. Bei Celtic Glasgow etwa, wo den Klubbossen die maue Stimmung im Stadion schon länger negativ aufstieß. Früher ließ die Fantribüne "The Jungle" ohrenbetäubende Sprechgesänge durch den Celtic Park donnern, nun erinnerte die Atmosphäre oft an eine Bücherei. Da kam Jon Darchs Modelltribüne gerade recht. Vor einem Jahr wurden 3000 Vario-Sitze eingebaut. Hier stehen nun die Ultras der "Green Brigade", die Stimmung hat sich grundlegend verbessert. Derzeit erprobt mit Shrewsbury Town ein Drittligist die sicheren Stehplätze, weitere Klubs denken über eine Testphase nach.
Es waren diese Erfahrungen, die der Diskussion eine neue Dynamik verliehen. Klar ist aber auch: Eine Rückkehr zu den Stehtraversen der Sechzigerjahre wird es nicht geben. Dabei sind diese wogenden Massen ein unkaputtbarer Mythos der Fankultur. Damals begriffen sich in Liverpool und Manchester die Zuschauer plötzlich als Fans und unterstützten ihre Klubs durch Schals, Fahnen und Gesänge. Auf dem "Kop" sangen die Anhänger schon eine Stunde vor dem Spiel die Songs aus der Hitparade mit. "You'll never walk alone" wurde so zum Stadionhit.
Die Fans standen dabei so dicht aneinandergepresst, dass die Anekdote von einem jungen Anhänger die Runde machte, der kurz vor Anpfiff noch einmal aus dem Block und auf Toilette wollte. "No way", sagte man ihm und er bekam die Empfehlung, er möge doch einfach seinem Vordermann in die Hosentasche pinkeln. Ob der dann nicht wütend sei, fragte der junge Mann nach. Antwort: "Du hast es doch auch nicht gemerkt!" Diese Anekdote, ob tatsächlich passiert oder nur gut erfunden, beschrieb zugleich die Faszination und die Gefahr der alten Fanblöcke. Massen von Fans, nur unzureichend durch Wellenbrecher gegen Stöße und Stürze geschützt.
Dass die Stehplätze von heute Katastrophen wie die von Hillsborough unmöglich machen, hat auch bei den Hinterbliebenen die Debatte neu belebt. Viele Familien können sich eine Umrüstung inzwischen vorstellen. Louise Brookes, die ihren Bruder Andrew in Hillsborough verlor, stellt sich die Frage: "Wenn stehen so gefährlich ist, warum sterben dann nicht ständig Menschen auf Festivals wie in Glastonbury?" Zudem findet sie: "Die Zuschauer sollen wählen können, ob sie sitzen oder stehen wollen."
Klar ist aber auch: Die neue Generation der Stehplätze wird deutlich teurer daherkommen. "Die Zeiten, in denen sich auch Geringverdiener den Stadionbesuch leisten konnten, sind für immer vorbei", sagt Darch. Trotzdem wird er weiter die englischen Klubs abklappern und seine kleine Tribüne aufbauen. Als Missionar einer lebendigen Fankultur.