Das Flugverbot gegen Belarus zielt auf die politische Elite - trifft aber vor allem die Bürger, sagt die Analystin Olga Dryndova. Sie erklärt, warum viele Belarusen die Sanktionen dennoch begrüßen - und was die EU für Protasewitsch tun kann.
tagesschau.de: Die schnelle Einführung von Sanktionen gegen das Regime um Machthaber Alexander Lukaschenko in Belarus bezeichnen viele EU-Beobachter als richtigen Schritt. Wie haben die Menschen in Belarus auf die Nachricht reagiert?
Olga Dryndova: Die Reaktionen sind nicht eindeutig. Einerseits freut man sich, dass das so unglaublich schnell passiert und hart genug ist - die Entscheidung binnen eines Tages ist nicht nur ein starkes Solidaritätssymbol, sondern wird auch reale, wirtschaftliche Wirkung haben.
Andererseits stellt sich auch die Frage nach der Sicherheit der Menschen, die in Belarus noch immer versuchen, politisch aktiv zu sein, aber Angst haben - und infolge der Repressionswelle überlegen, auszureisen. Für sie stellt sich die Frage, wie sie überhaupt noch das Land verlassen können: Seit Ende 2020 sind die Landgrenzen de facto geschlossen - offizielle Begründung war damals die Corona-Pandemie - und man konnte Belarus fast nur über den Flughafen verlassen. Wenn das nun nicht mehr geht - zumindest nicht in Richtung EU -, ist das natürlich ein Problem für die Menschen, die immer noch verfolgt werden.
tagesschau.de: Wen treffen diese Einschränkungen besonders? Gerade viele hochqualifizierte Belarusen arbeiten bei Organisationen und Unternehmen im Ausland ...
Dryndova: Diese Frage wurde auf EU-Ebene wahrscheinlich gar nicht diskutiert, weil erst einmal die Sicherheit der eigenen EU-Bürger im Vordergrund stand. Aber langfristig wird das für die Belarusen bedeuten, dass sie im Land eingeschlossen sind.
Ich kenne selbst mehrere Menschen, die immer wieder nach Belarus fahren - wobei sie sich das nach dem, was am Wochenende passiert ist, noch genauer überlegen werden. Denn seit vergangenem Jahr ist schwierig zu unterscheiden, wer als politisch aktiv gilt und wer als unpolitischer Urlaubsreisender ... Es sind seit August so viele Menschen verhaftet worden, inzwischen bis zu 40.000, und selbst wer aus den Ferien in Ägypten zurückkommt, kann am Flughafen festgesetzt werden, weil er oder sie schon mit einer Strafe oder Haft belegt worden ist. Theoretisch kann es jede Person treffen - einfach, weil sie etwas auf Facebook gepostet hat oder in einem Telegram-Kanal politische Gespräche geführt hat.
tagesschau.de: Wie wirkmächtig sind die wirtschaftlichen Folgen der EU-Sanktionen für Belarus? Treffen sie an den richtigen Stellen?
Dryndova: Da muss man unterscheiden, ob es um individuelle Sanktionen geht oder ob davon ganze Wirtschaftsbereiche betroffen sind - solche breiten wirtschaftlichen Sanktionen sind ja nicht zustandegekommen. Es war immer die Streitfrage, wem Sanktionen mehr schaden: dem Regime oder der Bevölkerung, indem langfristig Arbeitsplätze wegfallen? Da gibt es unter belarusischen Ökonomen keine einheitliche Meinung.
Etwas anders ist das bei Sanktionen, die sich gegen Einzelpersonen oder Unternehmen richten, die mit dem Regime kooperieren: Gegen sie gab es schon mehrere Sanktionspakete, die nicht zuletzt zeigen, wie wichtig die Frage für die EU geworden ist - aber eher symbolisch. Ich sehe nicht, dass die bis jetzt verhängten Sanktionen zu einem wirtschaftlichen Umbruch in Belarus führen könnten. Belarusische Experten gehen zwar davon aus, dass nicht mit einem Wirtschaftswachstum zu rechnen ist, solange die politische Krise im Land anhält - aber bis sich große Einbrüche bemerkbar machen, würde es Jahre dauern. Und: Belarus war nie eine reiche Nation, man ist daran also auch zu einem gewissen Grad gewöhnt.
tagesschau.de: Inwieweit trifft es die politische Elite, dass sie auf der Schwarzen Liste der EU steht und Konten eingefroren wurden?
Dryndova: Wären zum Beispiel alle Mitglieder der Wahlkommission - das sind Zehntausende, Hunderttausende - mit Sanktionen belegt worden, dann hätte man schon ein gewisses Ausmaß gesellschaftlicher Reaktionen erwarten können. Aber da wir hier über Einzelpersonen sprechen, die an der Spitze des Landes und seiner Institutionen stehen und daher Belarus oft ohnehin nicht einfach verlassen dürfen - das gilt etwa für Mitarbeiter der Sicherheitskräfte -, ist es für die nicht dramatisch. Man kann davon ausgehen, dass sie deshalb nun nicht den Staatsapparat verlassen und auf die Seite des Protests wechseln würden. Dass ihre Bankkonten blockiert wurden, ist für sie natürlich keine erfreuliche Nachricht, aber höchstwahrscheinlich haben sie ihr Geld inzwischen auch woanders hinterlegt.
tagesschau.de: In Russland, lautet ein häufiges Argument, trugen die Sanktionen eher zum weiteren Verfall im gesellschaftlichen Ansehen der EU bei - was die Staatsführung nutzte, um die EU als Gegner und Russland als Opfer darzustellen. Kann das auch in Belarus geschehen?
Dryndova: Das ist auf jeden Fall die Botschaft, die in den belarusischen Staatsmedien schon seit Monaten verbreitet wird: Es sei das Ziel des Westens, dass die Belarusen verhungern. Ob das verfängt, ist eine andere Frage: Eine Online-Umfrage des Chatham House, die natürlich nicht so repräsentativ wie Offline-Umfragen ist, die in Belarus nicht mehr möglich sind, brachte keine so eindeutige Redaktion. 26,7 Prozent glauben demzufolge nicht, dass scharfe Sanktionen schaden würden; 32 Prozent waren sicher, dass sie schaden - und 26,2 Prozent waren nicht sicher. Aber wir sehen ja auch auf EU-Ebene, dass es unterschiedliche Meinungen dazu gibt.
tagesschau.de: Was bedeutet die geänderte Regulierung im Luftraum für die internationale Zusammenarbeit, etwa durch Stiftungen oder Berichterstatter? Auch für Journalisten ist es nun gar nicht mehr so einfach, überhaupt nach Belarus einzureisen ...
Dryndova: Oh, das würde ich Ihnen unter den Umständen ohnehin nicht empfehlen. Mir sind persönlich Fälle bekannt, wo auch Journalisten geschlagen wurden - welchen Pass man hatte, war völlig egal. Ich selbst fliege jetzt auch nicht nach Belarus, obwohl ich dort Familie habe.
Dieser Fall mit dem umgelenkten Flugzeug ist nur ein Symptom dafür, was die staatlichen Repressionen im Land für die Zusammenarbeit heißen - die Stiftungen spüren das schon seit 2020. Eine Zusammenarbeit zwischen zum Beispiel deutschen Organisationen und staatlichen Strukturen kommt momentan nicht mehr infrage - man versucht, über Kontaktpersonen die Kommunikationswege zu erhalten, aber eine offene Zusammenarbeit wie früher ist für die meisten ausländischen Akteure jetzt nicht möglich, auch aus Sorge um die belarusischen Partner. Zwar gibt es kein Gesetz gegen "ausländische Agenten" wie in Russland - aber Geld aus dem Ausland zu beziehen, wird viel schwieriger. Das betrifft auch Organisationen, die früher nicht als politisch gesehen wurden - nämlich alle, die nicht staatsnah oder staatsloyal sind.
tagesschau.de: Mit der Sperrung ihres Luftraums für belarusische Flüge will die EU in erster Linie eigene Bürger schützen, wie sie auch mit dem Journalisten Roman Protasewitsch im Flugzeug saßen. Ihm drohen in belarusischer Haft Misshandlung, lebensbedrohliche Folter - und möglicherweise die Todesstrafe wegen "Extremismus". Ihm dürfte mit Sanktionen kaum geholfen sein ...
Dryndova: Das ist im schlimmsten Fall nicht ausgeschlossen, da die Todesstrafe in Belarus noch vollstreckt wird. Ich hoffe, es wird nicht dazu kommen. Nur seine Freilassung zu fordern, wie EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen es schon getan hat, dürfte wenig nutzen. Es gibt momentan mehr als 400 politische Gefangene in Belarus, und auch die sind nach simplen Aufforderungen nicht freigekommen.
Was die EU für ihn tun könnte - ich weiß aber nicht, ob das realistisch ist: Belarus bekommt für die Überflugsrechte Gebühren, die jetzt wegfallen werden - und die Verluste für die staatliche Fluggesellschaft Belavia werden erheblich sein, wenn sie jetzt an EU-Flughäfen nicht mehr starten und landen darf. Die EU könnte es also zumindest zur Voraussetzung machen, dass Roman Protasewitsch freikommt, damit diese Regelung abgeschafft werden kann - das schüfe zumindest eine Motivation.
Das ganze Interview ist verfügbar via https://www.tagesschau.de/ausland/europa/belarus-sanktionen-eu-103.html
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