Es ist ein schöner Frühsommertag. Die Sonne scheint auf die Altbauten der Karlstraße im Offenbacher Mathildenviertel, Kinder spielen auf der Straße, und im kleinen Café „My Piecycle Rad- & Trinkkultur" herrscht reger Betrieb. Draußen sitzt eine ältere Dame am Tisch und beobachtet das Treiben, während sie von ihrem Waldbeerenkuchen isst. „Ich komme immer auf dem Heimweg vorbei", erzählt sie. Es sei toll, was die jungen Leuten dort machten.
Mit „die jungen Leute" sind die beiden Inhaber Michelle Denk und ihr Lebensgefährte Pascal Röhm gemeint. Letzterer hat jedoch keine Zeit, das gute Wetter zu genießen. Er ist im Stress, denn die zum Laden gehörende Fahrradwerkstatt quillt über vor reparaturbedürftigen Rädern. Also eilt er wieder zum Schuppen auf der anderen Straßenseite. Im Innenhof stehen knapp zehn Fahrräder, Hobbybastler werkeln an ihren Bikes. „Jetzt muss ich erst mal den Hof freiarbeiten, damit ich überhaupt wieder in die Werkstatt komme", sagt Röhm. Derzeit sei besonders viel los, auch wegen zahlreicher Veranstaltungen, die im „Piecycle" stattfänden. „Als Selbständiger kann man schwer von Überstunden sprechen, aber eigentlich bin ich immer hier", sagt der gebürtige Offenbacher und grinst. Im Schnitt warten seine Kunden zwei bis acht Tage, bis sie ihr Rad bei ihm abholen können. Meistens behebt er alltägliche Defekte, am liebsten restauriert Röhm aber historische Räder. Er ist 30 Jahre alt und gelernter Polsterer, doch Fahrräder waren schon immer seine Berufung - und irgendwann wurden sie sein Beruf. Seit einem Jahr ist das Café hinzugekommen. Oberflächlich betrachtet, also ein Gastronomiebetrieb mit Radwerkstatt.
Sammelsurium gemütlicher Sessel der NachkriegsjahrzehnteDoch das „My Piecycle" will mehr als das sein. „Wir wollen einen Raum für Kunst und Kultur schaffen - für und mit den Menschen aus dem Viertel", sagt Michelle Denk. Sie ist 29 Jahre alt und Hotelfachfrau, hat aber auch soziale Arbeit studiert und ist die Organisatorin im Inhaberduo. Dass sie diesem Anspruch gerecht werden, zeigt das vielfältige Veranstaltungsangebot. So können sich die Gäste im Juni beispielsweise für einen ayurvedischen Kochkurs anmelden oder Jazz und Poesie lauschen. Im Mathildenviertel sind solche Orte selten, auch wenn das Viertel sich im Wandel befindet. Denk sieht das „Piecycle" aber nicht als Zeichen der Gentrifizierung. Denn viel Kapital habe man nicht mitgebracht, sondern vor allem viel Arbeit und Liebe zum Detail.
Das spiegelt sich im Interieur des Cafés wider. Dort findet der Gast ein Sammelsurium gemütlicher Sessel der Nachkriegsjahrzehnte vor, bunte Farben kontrastieren mit den rustikalen Holz- und Glaselementen an Decke und Theke, in einer Vitrine können die hausgemachten Kuchen bewundert werden. Fast alles sei geschenkt, aus zweiter Hand oder selbstgemacht, versichert die junge Frau. „Auch die Kuchen backen Pascal und ich selbst", erzählt Denk und lächelt, während die Sonnenstrahlen durch die roten Locken brechen. Aus praktischen Gründen backt, wer gerade Zeit hat. Aber eigentlich macht man im „Piecycle" die Dinge lieber gemeinsam.
„My Piecycle" im Haus Karlstraße 8 hat von Dienstag bis Freitag jeweils von 11 bis 19 Uhr geöffnet, samstags von 11 bis 18 Uhr. Sonntags und montags ist in der Regel geschlossen.