Heruntergekommene Fassaden, Gebäudelücken im Straßenbild: Berlin war in den 90ern eine riesige Baustelle. Nach der Wende wurde restauriert, saniert und die Stadt wieder hübsch gemacht. Die krasse Wandlung Berlins hat Michael Lange (44) damals bereits angefangen zu dokumentieren - und zwar analog mit einer Nikon-Kamera. Die Rollen mit Negativen waren in Boxen verstaut, bis er sie vor einigen Jahren anfing einzuscannen.
Auf einem Tumblr-Blog kontrastierte er die Umbruch-Bilder mit Fotos von heute. So schafft der studierte Publizist ein einzigartiges Bildnis der Hauptstadt im Wandel. Als er sich einmal unsicher war, wo ein Wohnhaus stand, halfen ihm User. Sein Projekt: " Berlin in den 90ern " wuchs schnell über einen Blog-Geheimtipp hinaus - nun ist daraus sogar ein Buch geworden. Im September erschien "Rückblende: Berlin in den 90ern - und heute" im Berlin Story Verlag.
Die Nachwendezeit ist an Fassaden abzulesenWährend der wilden 90er wohnte der Student Lange zunächst in Prenzlauer Berg, später im Wedding und lief mit seiner Kamera durch die Straßen der neuen Hauptstadt. Seine analogen Aufnahmen aus einer vordigitalen Zeit verknüpft er zu einem zeitgenössischem Projekt. "Mich hat der Stadtraum interessiert und Veränderungen über die Zeit zu beobachten", sagte er der B.Z. Die Wirren der Nachwendezeit sei an Berlin abzulesen, wie sonst in kaum einer anderen Stadt. "An Gebäuden lassen sich historische Schichten festhalten, die sich überlagern. So wurden gab es Diskussionen, ob Areale neu entwickelt oder restauriert werden sollten", erklärte der visuelle Chronist, "das war auch bei dem Reichstag der Fall: 1995 wurde er komplett verhüllt, später erhielt das Gebäude die heutige Glaskuppel, doch dazwischen gab es Streit um das historische Symbol."
Oft denke ich 'hier stand doch mal ein Club'
Für das Buch habe er die Schauplätze seiner Fotos erneut abgefahren, "erst da wurde mir klar, wie viel abgerissen wurde, obwohl es unter Denkmalschutz stand. Gerade im Osten wurden viele Details wie Seitenflügel oder ein Hinterhaus wegradiert", erinnert sich der Blogger. "In Mitte muss ich oft denken 'hier war doch mal ein Club'". Diese Transformationsspuren, wie Lange sie bezeichnet, gehören zu Berlin, andere Städte seien dagegen durch architektonischen Stillstand geprägt. "Berlin ist in sich eine stetige Veränderung", doch leider wüssten Zugezogene wenig darum. Durch seinen Blog wird ein Blick auf die Stadt im Wandel wieder sichtbar und wie die einst geteilte Stadt wieder zusammenfindet.
Gerade junge Menschen begeistern sich für seine Bilder, aber das sei dem Medium Tumblr geschuldet, so Lange. "Über Facebook hätte ich vielleicht mehr Menschen erreicht und mehr Diskussionen gehabt." Irgendwann wird er keine Fotos mehr bloggen, wenn sein Archiv ausgeschöpft ist. Doch bis dahin möchte der 44-Jährige die Suchfunktionen verfeinern, damit aus "Berlin in den 90ern" ein visueller Stadtplan der Wandlungen werden kann.