Die Mitglieder von Deutschlands größter Gewerkschaft haben tagelang die Arbeit niedergelegt: für mehr Lohn und weniger Wochenstunden. Mit Erfolg. Aber wie läuft eigentlich so ein Protest ab? Wir haben eine 21-Jährige bei ihrem ersten Streik begleitet.
An einem Februarmorgen steht eine junge Frau mit olivfarbener Winterjacke und blonden, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren vor den Toren ihres Arbeitgebers und scheint zu allem bereit – außer, zur Arbeit zu gehen. „Heute wird hier kein einziges Auto vom Band laufen“, sagt sie und zeigt auf das Werksgelände hinter einem blauen Zaun. An den Streben ist ein weißes Banner befestigt. Darauf steht in schwarzen Lettern: „Heute Warnstreik“.
Streikwarnung: „Verlust von einer Million Euro für Ford“. (Foto: Jana Glose / Orange by Handelsblatt)
IG Metall Tarif-Abschluss: 4,3 Prozent mehr Gehalt
Merle Pelzer ist 21 Jahre alt und Jugendvertreterin bei Ford in Köln. Sie setzt sich für die Belange von jungen Kollegen und Azubis ein. Um sie herum stehen Männer und Frauen in gelben Warnwesten, roten Jacken, Mützen und Schals dicht an dicht. Gemeinsam mit tausenden Kollegen bestreikt Merle das Ford-Werk in Köln-Niehl.
Es ist der größte und längste Streik in der Geschichte der IG Metall. Die Gewerkschaft hat deutschlandweit rund 2,3 Millionen Mitglieder und vertritt die Interessen von Arbeitern. Die sechste Verhandlungsrunde brachte den Durchbruch: Im Tarifkonflikt der Metall- und Elektroindustrie haben sich Vertreter von IG Metall mit Chefs von Unternehmen am Montagabend in Stuttgart auf einen Abschluss verständigt.
Ab April 2018 erhalten alle Beschäftigten der Branche 4,3 Prozent mehr Gehalt. Außerdem dürfen sie ihre Arbeitszeit von 35 auf 28 Wochenstunden kürzen, allerdings nur für maximal zwei Jahre. Der Beschluss gilt zunächst für Baden-Württemberg, doch die übrigen Bezirke in Deutschland werden ihn wohl übernehmen. Die Einigung ist also da. Doch nicht alle Forderungen von Merle wurden erfüllt.
„Die Hauptforderung ist sechs Prozent mehr Gehalt“, erklärt Merle am ersten Februar, dem Tag des Streiks – Tage vor der Einigung. „Zweitens wollen wir, dass alle Auszubildenden vor der Abschlussprüfung einen Tag frei bekommen.“
„Mitglieder der Gewerkschaft können sich Streikgeld abholen“
Durch ihre Position als Jugendvertreterin sei ihr besonders der freie Tag vor der Abschlussprüfung sehr wichtig. „Der 24-Stunden Streik ist ein neues Druckmittel“, sagt sie.
Vor Tor 24 der Ford-Werke haben sich zahlreiche Fotografen und Kamerateams aufgebaut. Plötzlich ertönt lautes Gehupe. Applaus brandet auf. Eine lange Schlange an Autos biegt um die Ecke. Volkswagen, Opel- und Ford-Modelle. An Fahrer- und der Beifahrertür stecken rot-weiße IG Metall-Wimpel. Ein Mann in neongelber Warnweste zündet eine Rauchbombe.
Der Qualm zieht durch die Menge. Es riecht wie an Silvester. Auch Merle steht gemeinsam mit Kollegen in der Menge. Noch ein paar Minuten Applaus, dann endet der Korso. Am Schluss fährt ein Polizeiauto.
Eine Hochzeitslocation wird zur Streik-Einsatzzentrale
Leichter Regen setzt ein und treibt Merle und ihre Kollegen zu einem roten Pavillon am Werkstor. Hier sitzen Arbeiter in neongelben Warnwesten auf Bierbänken und warten auf Arbeiter, die ihre Schicht beginnen wollen. Sie wollen ihre Kollegen überzeugen, zu streiken. Auf dem Tisch liegen Namenlisten.
Streikkarte der IG Metall: „ein hoher logistischer Aufwand“. (Foto: Jana Glose / Orange by Handelsblatt)
Rund 14.000 Ford-Mitarbeiter sind Gewerkschaftsmitglieder der IG Metall. Insgesamt arbeiten mehr als 17.000 Menschen in den Werken in Köln-Niehl.
Orientalische Musik erklingt aus Boxen im Pavillon. Ein schwarzer Ford Transit fährt vor, Männer springen auf die Straße und laden große Pizzakartons aus. Dann bauen sie einen Heizpilz auf. Bei gerade einmal drei Grad eine willkommene Wärmequelle. Für Merle bleibt keine Zeit für ein Stück Pizza. Sie steigt in einen großen schwarzen Van und fährt mit Kollegen zur Streikzentrale.
IG Metall: „Wir streiken 24 Stunden und ich bin die ganze Zeit dabei“
Etwa 500 Meter abseits vom Werk entfernt haben die Organisatoren des Streiks eine Veranstaltungshalle angemietet, wo am nächsten Tag eine Hochzeit stattfindet. Der Saal ist schon eingedeckt, die Stühle sind mit weißen Hussen überzogen, Sektgläser und Geschirr stehen bereit. Für 24 Stunden dient die Halle der IG Metall als Einsatzzentrale.
Neben Laptops, Handys und einem Drucker gibt es hier vor allem Essen und Trinken. In silbernen Wärmebehältern servieren die Kollegen Reis, Currysauce und buntes Gemüse. An großen Tischen stehen und sitzen Helfer. Einige ruhen sich aus, andere kochen Kaffee, verpacken Müsliriegel und Brötchen. Damit werden die Streikenden an den 33 Toren versorgt.
Über 800 Liter Kaffee wurden bereits gekocht. Immer wieder klingeln Handys und Meldungen, wo ein Pavillon, neue Gasflaschen für einen Heizstrahler oder auch Kaffee gebraucht wird, gehen ein.
Auch Merle ist im Dauereinsatz. „Wir streiken 24 Stunden und ich bin die ganze Zeit dabei.“ Ihr und den andren ist die Müdigkeit anzumerken. Kaffee und Red Bull sind besonders gefragt. Merle nimmt sich einen Kaffee und setzt sich an einen der vielen Tische. Hier tauscht sich mit Streikleiter Benjamin Gruschka aus.
„Der Streik ist ein hoher logistischer Aufwand, das muss gut geplant sein. Wir haben im Vorfeld 33 Pavillons, 33 Heizstrahler und drei neue Musikanlagen beschafft“, erklärt er. Auf einer Liste sind die Zuständigkeiten genau eingetragen. Insgesamt sind etwa 1.000 Arbeiter in verschiedenen Schichten für die Tore verantwortlich. Eine Organisation, die an echte Arbeit erinnert.
Der IG Metall-24-Stunden-Streik bringt eine Millionen Euro Verlust für Ford
Für Ford hat der 24-Stunden-Streik schwerwiegende Folgen. „Kein Auto läuft vom Band. Heute werden 1.450 Fiesta, 1.200 Motoren und 1.400 Getriebe nicht gebaut. Dazu kommt, dass kein Lieferant bedient wird, keine Instandhaltung betrieben wird und niemand im Büro ist“, erklärt Guschka während er eine Dose Red Bull öffnet. „Für Ford bringt das einen Verlust von etwa einer Million Euro.“
Während der NRW-Arbeitgeberverband Klage beim Frankfurter Arbeitsgericht gegen die Streiks eingereicht hatte, plante Ford nach Angaben des WDR keine rechtlichen Schritte gegen den Warnstreik.
Merle hat ihren Kaffee mittlerweile ausgetrunken. Lange Zeit zum Aufwärmen bleibt ihr nicht. Vor ein paar Minuten, um 15 Uhr, hat der Schichtwechsel stattgefunden. Dann sei noch einmal besonders viel an den Toren los, erklärt sie. „Mitarbeiter, die eigentlich mit ihrer Schicht beginnen, kommen, um sich in die Streiklisten einzutragen und ihre Ausweise abzuholen.“ Für Merle ist es ein ständiges Hin und Her, immer zwischen Streikzentrale und Einsatz an einem der bestreikten Tore.
Merle und drei Kollegen von Ford: 24 Stunden Dauereinsatz. (Foto: Jana Glose / Orange by Handelsblatt)
Dann klingelt ihr Handy. Merle schmeißt sich ihre olivgrüne Jacke über. Tor 15 braucht Kaffee. Gemeinsam mit anderen Helfen trägt sie eine große Kiste mit Kaffeebechern, Müsliriegeln und schwarzen Thermoskannen aus der Halle. „Es gibt eigentlich immer irgendetwas, das man machen kann. Langweilig wird es auf keinen Fall“, sagt Merle mit einem Lachen im Gesicht – und macht sich auf den Weg. So geht es jetzt noch bis zum nächsten Morgen um sechs Uhr.
In dieser Woche geht für Merle wieder der Alltag los. Denn der erstrittene Tarifabschluss gilt bis Ende März 2020. In den kommenden 26 Monaten ist also erst mal wieder Arbeit angesagt.
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