Dezember 2017. Eine kleine Baracke auf der Insel Dänholm, zwischen Rügen und Stralsund. Es stinkt nach Verwesung. Auf einem Sektionstisch aus Edelstahl liegt eine tote Kegelrobbe – ein massiger Körper, über zwei Meter lang, über hundert Kilo schwer. Linda Westphal und Michael Dähne, zwei Meeresbiologen, vermessen den Körper, notieren seine Größe und das Gewicht. Akribisch fotografieren sie das Fell, untersuchen es auf Verletzungen, nehmen Proben aus dem Maul sowie aus der Haut und der darunterliegenden Fettschicht.
Anschließend zerlegen sie das Tier fachmännisch und entnehmen von allen Organen weitere Proben. So wie auch schon bei den fast zwei Dutzend toten Kegelrobben zuvor, die seit September 2017 am Ufer des Greifswalder Boddens gefunden wurden. Die Arbeit verläuft nach einem strikten Schema, der Ton ist sachlich. Dennoch lässt Westphal die Sache nicht kalt: "Es tut jedes Mal weh, wenn man ein gesundes, kräftiges Tier hier auf dem Sektionstisch hat. Das ist etwas, was wir nicht sehen wollen. Vor allem, weil es zurzeit so viele sind. Ein großer Bestandteil der derzeitigen Population ist weggebrochen."
Population am Greifswalder Botten gefährdet
Insgesamt 23 Tiere sind in nur einem Vierteljahr tot angespült worden. Eine Zählung im März 2017 ergab 127 Kegelrobben am Greifswalder Bodden, eine weitere im November dann nur noch 11 Tiere. Wenn das Sterben so weiter geht, wird die Population bald verschwunden sein. Das wäre eine Katastrophe – für den Umwelt- und Naturschutz, aber auch für die Wirtschaft. Die junge Kegelrobben-Population hat sich zunehmend zu einer Touristenattraktion entwickelt. Von Rügen aus kann man Bootsfahrten zu den Sandbanken unternehmen – eine gute Einnahmequelle für die Menschen hier.
Dähne und Westphal haben während der Sektion verschiedene Schalen und Behälter mit Gewebeproben gefüllt, aber keine neuen Erkenntnisse gewonnen. Der Befund: Das Tier starb an akutem Herz-Kreislaufversagen. Und so was bei einem jungen kräftigen Bullen? Er hatte keine Infektion, keine Verletzungen, keine Vergiftung. Das Blut, das ihm aus dem Maul läuft, stammt von den Verletzungen durch den Transport vom Ufer in die Sektionshalle. Und das gleiche Bild bei den anderen toten Robben – kräftige, gesunde Tiere sterben plötzlich.
In Fischreusen ertrunken?
Inzwischen sind weitere vier tote Kegelrobben gefunden worden. Und auch hier keine klare Todesursache. "Die wahrscheinlichste Todesursache ist der Tod durch Ertrinken, alles andere können wir ausschließen", sagen die beiden Experten. Tod durch Ertrinken – das bedeutet, es gibt keine natürliche Ursache, denn Kegelrobben ertrinken nicht einfach so. Daher erstattet das Deutsche Meeresmuseum im Januar 2018 Anzeige gegen unbekannt. Der Verdacht der Forscher: Die Tiere sind in Fischreusen ertrunken. Diese können zwanzig Meter und länger sein und einen Durchmesser von über zwei Metern haben – groß genug für eine Kegelrobbe. Und eine mit Fischen gefüllte Reuse ist für die Tiere verlockend wie ein gedeckter Tisch. Sind die Tiere als sogenannter Beifang, also versehentlich verendet oder gar absichtlich ertränkt worden?
Staatsanwaltschaft ermittelt
Letzteres dementiert der Fischereiverband umgehend: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Fischer mutwillig Robben in Reusen locken, um sie zu töten", schreibt der Vizechef des Landesverbandes der Kutter- und Küstenfischer, Michael Schütt, auf der Internet-Seite des Verbandes, gibt aber zu "dass eine Robbe versehentlich in einer Reuse lande, könne passieren." Und räumt ein, dass damit die hohe Zahl der gefundenen Kadaver nicht zu erklären sei. Also doch Absicht? Immer wieder beklagen Fischer, dass Kegelrobben Ihnen die Fische wegfangen. Tatsächlich frisst jede Kegelrobbe geschätzt pro Tag 6 bis 10 Kilo Fisch.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt und hat laut Zeitungsberichten einen Anfangsverdacht gegen konkrete Personen. Seither gibt es keine Totfunde mehr. Vielleicht ist durch die Ermittlungen das Sterben der Kegelrobben beendet. Sollte es weitergehen, wollen die Forscher mit ihrer Foto-Datenbank aber auch hier wichtige Hinweise finden. Wenn wieder tote Tiere gefunden werden, und sie diese bereits in der Fotodatenbank erfasst sind, könnte das Rückschlüsse auf die Todesursache ermöglichen – etwa wenn die erfassten Aufenthaltsorte der Tiere in der Nähe der Stellplätze von Fischreusen waren.
Den Kegelrobben auf der Spur
Um die Tiere besser schützen zu können, müssen mehr Informationen über die Kegelrobben gesammelt werden. Man weiß wenig über ihr Verhalten, ihre Biologie – wann werden sie geschlechtsreif, in welchem Alter haben sie ihre Nachkommen, was sind ihre Wanderwege? Es ist unklar, wie lange die einzelnen Tiere hier bleiben oder weiterziehen. Oder ob noch weitere aus anderen Küstenregionen der Ostsee nachziehen.
Jede Kegelrobbe hat ein individuelles Fellmuster
Um all diese Fragen zu beantworten, aber auch um vielleicht sogar die Todesursachen der Kegelrobben herauszufinden, starten die beiden Meeresbiologen eine neues Projekt. Ihr wichtigstes Werkzeug: Fotoapparat und Schlauchboot. Nicht für schöne Erinnerungsbilder, sondern um möglichst exakte Abbildungen des Felles der Robben zu bekommen. Denn jede Kegelrobbe hat ein individuelles Fellmuster. Damit wollen sie die Tiere später identifizieren und so ihre Aufenthaltsorte und Wanderrouten nachvollziehen. Die Bedingungen müssen optimal sein, um die Wildtiere gut abbilden zu können: Keine Wellen und Niedrigwasser. Aber auch keine Sonne, denn die spiegelt sich im nassen Fell.
Eine spezielle Software durchsucht dann die Fell-Aufnahmen nach charakteristischen Mustern und gleicht diese mit bereits in einer Datenbank vorhandenen ab. Schon 18 Tiere konnte Westphal so identifizieren. Und für jede Aufnahme sind Aufnahmeort und -zeit vermerkt. So können Wanderrouten einzelner Tiere errechnet werden und auch die Veränderungen einer Population im Lauf der Zeit: Welche Tiere kommen dazu, welche wandern weiter? Gibt es Nachwuchs, wie alt werden einzelne Tiere?
Autor: Jan Kerckhoff (BR)
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