Herr Rex, Ihre erste Zeit bei der Mosaic-Expedition ist vorbei, seit wenigen Wochen sind Sie wieder in Deutschland. Was vermissen Sie am meisten?
Markus Rex: Die Arktis vermisse ich immer, wenn ich in Deutschland bin. Natürlich ist es mir schwergefallen, das ganze Forschungsstädtchen, das wir auf dem Eis aufgebaut haben, hinter mir zu lassen und in die Hände des Teams der nächsten Expeditionsphase zu legen. Aber da ich ab Mitte März schon wieder dabei sein werde, ist mir der Abschied leichter gefallen.
Sonst fehlt Ihnen nichts?
Das klingt vielleicht merkwürdig, aber mir fehlt die Polarnacht. Die Schwärze, die Lichtstimmung und das Licht der Stirnlampe haben eine eigene Faszination.
Klingt gespenstisch.Es ist ein außerirdisches Gefühl, wenn man auf dem Eis zwischen den skurrilen Formationen, die sich durch Wind und Eisdruck bilden, durchläuft.
Was ist das Besondere an der Polarnacht?
Das ist sehr anders als in Deutschland. Wenn Sie nachts vor die Tür gehen, haben Sie immer Licht um sich herum. Diese Schwärze aus der zentralen Arktis hat man nirgends. Dann kommt dazu, dass es sehr kalt ist. Durch die Expeditionsausrüstung friert man nicht, aber es trägt zu der Gesamtatmosphäre auch bei. Man steht in dieser skurrilen Landschaft auf einer ein bis zwei Meter dicken Eisscholle, über einem tausend Meter tiefen Ozean, tausende von Kilometern weg vom nächsten Menschen.
Haben Sie die ganze Zeit im Kopf, dass Sie auf einer verhältnismäßig dünnen Eisscholle stehen?
Ja, das ist die ganze Zeit präsent. Man kann es zwar vergessen, wenn man arbeitet, aber das Eis ruft das sehr häufig wieder ins Gedächtnis. Es quietscht, wenn sich die Eisschollen in Rissen gegeneinander verschieben. Manchmal gibt es plötzlich Risse zwischen wenigen Zentimetern und mehreren Metern, in denen man sogar das offene Wasser sieht.
Wie gefährlich ist das?
Man muss immer aufmerksam sein. Diese Eisrisse werden zum Teil von Schnee verdeckt, sodass man sie nicht richtig erkennen kann.
Gibt es denn etwas, dass Sie gar nicht vermissen?
Nein, tatsächlich nicht. Die Atmosphäre während so einer Expedition hat etwas Einzigartiges und da gehört auch dazu, dass das Leben sehr anders funktioniert als hier an Land. Wir kommen damit aber gut zurecht.
Wie kann ich mir Ihre tägliche Arbeit an Bord vorstellen?
Das ist sehr unterschiedlich. Wenn alles ruhig ist und die Arktis uns keine besonderen Schwierigkeiten in den Weg legt, haben wir einen sich wöchentlich wiederholenden Messrhythmus. Das zieht sich durch die gesamte Expedition.
Warum ist das so wichtig?
Es geht darum, möglichst einheitliche und konsistente Daten während des ganzen Jahres zu bekommen. Schon allein von daher unterscheidet sich jeder Tag von dem anderen.
Aber?
Jeder Tag birgt seine eigenen Überraschungen. Die Arktis konfrontiert uns fast täglich mit unerwarteten Ereignissen, auf die wir reagieren müssen.
Was sind das für Ereignisse?
Neue Eisrisse, die sich gebildet haben. Teile des Forschungscamps, die sich verschoben und dabei Stromleitungen zerstört haben. Oder Presseisrücken, die sich unter hohem Druck bilden und die auch unsere Ausrüstung, wissenschaftliche Geräte und Stromleitungen verschütten können. Wir müssen uns auch auf Besuch von Eisbären einstellen. Wenn diese Tiere in der Umgebung sind, dürfen Menschen nicht auf dem Eis arbeiten.
Stichwort Eisbären: Wie sehr schwanken Sie zwischen Angst und Faszination, wenn Sie die Tiere aus der Nähe sehen?
Das sind faszinierende Tiere. Riesige Raubtiere, - bis zu drei Meter hoch, eine halbe Tonne schwer - die sich auf dem Eis wie Katzen bewegen. Sie springen behände über Eisrücken, klettern über Spalten oder schwimmen durchs Wasser. Es ist faszinierend zu sehen, wie diese Tiere sich in ihrem Lebensraum so bewegen können. Wir hatten sehr viel Besuch. Es bleibt aber einer der Bereiche, vor denen wir uns schützen. Wir müssen Risiken vermeiden, da hungrige Eisbären auch mal Menschen attackieren.
Ein zwiegespaltenes Verhältnis also?
Es ist toll zu sehen, dass es der Population gut geht. Wir freuen uns sehr über Eisbärbesuch, gerne aber auf der Nachbarscholle.
Gibt es denn Momente, in denen Sie die Umgebung genießen können?
Wir arbeiten zwar sehr viel, aber es gibt immer wieder Momente, in denen man auf dem Eis steht, sein Messgerät zur Seite legt und sich darüber bewusst wird, in was für einer abgefahrenen Umgebung man gerade ist. Manchmal fühlt es sich an, als würde man auf einem außerirdischen Himmelskörper stehen, der tiefgefroren ist und in der Dunkelheit liegt.
Nehmen Sie die Natur durch Ihr Wissen um den Klimawandel anders wahr?
Ja, das schwingt immer mit. Die Arktis hat sich schon deutlich verändert. Fridtjof Nansen hat in den 1890er-Jahren eine ähnliche Expedition durchgeführt. Er stand damals auf erheblich dickerem Eis. Er schreibt auch von Temperaturen weit unter minus 40 Grad Celsius. Wir haben es meistens mit Temperaturen um 30 Grad Celsius unter Null zu tun.
Es ist also schon jetzt wärmer als damals.
Wenn man auf die Landschaft schaut, wird einem bewusst, dass das Eis vielleicht gar nicht mehr so ewig ist, wie es erscheint.
Glauben Sie, dass der Klimawandel noch aufzuhalten ist?
Wir haben es in der Hand, wie es in der Arktis weitergeht. Um das Szenario einer im Sommer komplett eisfreien Arktis abzuwenden, haben wir nicht mehr viel Zeit. Wir müssen sehr schnell und sehr massiv weltweit - das ist die große Herausforderung dabei - die Emissionen reduzieren. Um das zu erreichen, müssen wir Mechanismen entwickeln. Die Emissionen gehen weltweit von Jahr zu Jahr nach oben. Sie müssten aber sehr schnell sinken. Dafür brauchen wir Konzepte, die besser als in der Vergangenheit funktioniert haben.
Sie sprechen von weltweiten Konzepten. Wir sind uns in Deutschland schon kaum einig.
Richtig, das ist eine große Herausforderung. Deutschland muss vorangehen, Konzepte entwickeln und zeigen, dass sie funktionieren, damit andere Staaten dem Beispiel folgen. Andererseits müssen wir bei dem Handeln in Deutschland auch immer im Blick behalten, was das für CO2-Ausstoß in anderen Ländern bedeutet. Nur auf die Emissionen innerhalb unserer Grenzen zu achten, bringt uns auch nicht weiter.
Hat die Mosaic-Expedition in solch einem Prozess auch eine aufklärende Rolle?
Es gehört mit dazu, aber Aufklärung steht nicht an erster Stelle.
Sondern?
Wir wollen das Klimasystem der Zentralarktis besser verstehen, sodass wir die Unsicherheiten in den Prognosen deutlich reduzieren können. Wir wollen den Menschen genauer sagen, wie sich ihr Verhalten auf das Klima auswirkt.
Warum?
Die Gesellschaft braucht eine solide Grundlage, mit der sie sich entscheiden kann, welches Klima sie haben möchte und mit wie viel Energie und Aufwand sie die Emissionen reduzieren will. Wir sehen es als unsere Aufgabe, die Grundlagen zu schaffen, um politische Entscheidungen robuster zu gestalten.
War es höchste Zeit, dass es eine so umfassende Expedition geben musste?
Das würde ich in jedem Fall so sagen. Wir brauchen wissenschaftliche fundierte und faktenbasierte Grundlagen für politische Entscheidungen. Dazu sind die ganzjährigen Beobachtungen aus der Zentralarktis entscheidend. Bisher fehlten uns Daten von Klimaprozessen, weil wir das Winterhalbjahr noch nie in diesem Bereich verbracht haben. Aber auch diese Prozesse müssen in unseren Klimamodellen einfließen.
Wie funktioniert das bisher?
Bisher muss jedes Modell ein bisschen raten, wie diese Prozesse funktionieren. Das führt dazu, dass es sehr unterschiedliche Prognosen gibt. Nehmen wir nur mal ein pessimistisches CO2-Szenario: Aus manchen Modellen schließen wir, dass die Arktis sich bis zum Ende des Jahrhunderts um fünf Grad erwärmt. Andere Berechnungen gehen bei dem gleichen Treibhausemissionsszenario eine Erwärmung um 15 Grad Celsius.
Wie werden die gesammelten Daten verarbeitet?
WLAN gibt es kaum. Wir haben nur sehr rudimentäre Datenverbindungen zwischen der Expedition und dem Festland.
Woran liegt das?
Wir sind so weit im Norden und haben keinen Zugriff auf geostationäre Kommunikationssatelliten, die über dem Äquator stehen. Wir sind auf ein paar Satelliten mit geringen Bandbreiten angewiesen und können nur Testdatenpakete nach Hause schicken, um Experten drauf schauen zu lassen, ob die Instrumente noch funktionieren. Die ersten Daten sind Anfang Januar auf Festplatten mit unserem Partnereisbrecher zurückgekommen und werden an Land ausgewertet und analysiert. An Bord haben wir auch nicht die Rechenkapazitäten, um komplexe Analysen mit den Daten machen zu können.
Können Sie und die anderen Teilnehmer mit ihren Familien kommunizieren?
Man kann Telefonverbindungen mit mäßiger Qualität herstellen, für Videotelefonie reicht die Bandbreite nicht. Aber mal kurz zu Hause anrufen, geht schon. Das nutzen die Teilnehmer natürlich, ist nicht ganz billig, aber es sind auch keine astronomischen Kosten.
Wie geht es weiter, wenn die Expedition beendet ist?
Dei eigentliche Arbeit geht dann erst los. Die Daten werden ausgewertet. Erstmal werden wir eine Flut von wissenschaftlichen Erkenntnissen über Klimaprozesse haben, wodurch wir einige davon besser verstehen werden. Darüber hinaus müssen wir diese Prozesse in den Berechnungen der Klimamodelle berücksichtigen. Auf diese Weise werden dann Unsicherheiten schrumpfen. Das wird sich allerdings noch einige Jahre hinziehen.
Es gibt einen Blog und einen Podcast vom Schiff. Wie wichtig ist diese Form der Öffentlichkeitsarbeit?
Natürlich geht einige Zeit in die Öffentlichkeitsarbeit. Viele Menschen interessieren sich für unsere Arbeit und sie bezahlen über ihre Steuergelder auch dafür. Da sind wir in der Pflicht, genau zu erläutern was wir warum tun. Ich halte das für einen integralen Aspekt unserer Arbeit. Trotzdem arbeiten wir vorwiegend wissenschaftlich.
Wird die Öffentlichkeitsarbeit immer wichtiger in der wissenschaftlichen Kommunikation mit den Bürgern?
Das ist etwas, das wichtiger wird. Vor wenigen Jahren hatten wir es mit einigen Journalisten zu tun, die als Multiplikatoren fungierten. Jetzt können viele Menschen unsere Inhalte über soziale Netzwerke konsumieren, dafür sind auch unsere Teams größer geworden.
Auch während der Expedition?
Wir haben dauerhaft mindestens einen Fotografen und zwei Filmemacher an Bord. Sie erstellen dokumentarische Formate, die im Nachhinein veröffentlicht werden. Es wird auch einen Expeditionsbericht in Buchform geben.
Freuen Sie sich denn auf Ihren zweiten Aufenthalt an Bord ab Mitte März?
Ich freue mich sehr auf die nächste Phase. Ich werde dann im Hellen sehen, was wir aufgebaut haben.
Aber nur im Hellen.
Es wird während der Phase kaum noch dunkel. Für ein paar Tage geht die Sonne noch ein paar Stunden unter, aber das ist dann auch bald vorbei. Es gibt wieder eine ganz andere Lichtstimmung. Die Veränderungen in den Jahreszeiten sind faszinierend.
Glauben Sie, dass die Expedition auch für andere Teilnehmer etwas Besonderes ist?
Ja, das ist eine einmalige Erfahrung. Wir sind uns bewusst, dass es die größte und umfangreichste Arktis-Expedition ist. Eine ganz besondere Gelegenheit auch im Winter in der Arktis zu forschen und jeder ist elektrisiert von Möglichkeit, an so etwas teilnehmen zu können. Es ist das erste und auf absehbare Zeit das letzte Mal, dass es solch eine Expedition geben wird. Daher versuchen wir alle aus unserer Zeit, das meiste herauszuholen.
Das Gespräch führte Jan-Felix Jasch.
Zur PersonMarkus Rex leitet die Mosaic-Expedition des Alfred-Wegener-Institutes. Im Herbst brach er mit dem Forschungseisbrecher „Polarstern" aus dem norwegischen Tromsø Richtung Norden auf. Ein Jahr lang wird das Schiff an einer Eisscholle durch die Arktis driften und dabei wichtige Klimadaten sammeln. Im Januar wurden Teile der Besatzung ausgetauscht. Auch die erste Schicht von Rex ist vorbei. Im April wird der Atmosphärenphysiker wieder zurückkehren.