Kinder stehen angespannt auf dem Schulflur. Einige scrollen durch die sozialen Medien. Andere basteln vor einem Algebra-Test Spickzettel. Plötzlich ertönt die Hymne Russlands. Die jüngeren Schüler begreifen nicht, was passiert. Während des Refrains wird die russische Flagge gehisst. Die Lehrerinnen und Lehrer protokollieren alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung. Keiner darf fehlen. Schließlich endet die Hymne und die Schüler gehen in ihre Klassenräume. So wird bald der Alltag an russischen Schulen aussehen.
Das alles ist keine Ausgeburt meiner Fantasie. Die russische Regierung hat beschlossen, dass an allen Schulen des Landes montags die Nationalhymne gespielt und die Nationalflagge gehisst wird. Der russische Bildungsminister Sergej Krawzow erläuterte, dass dies dazu beitragen werde, den Patriotismus unter den Schülern zu stärken. Sie sollen die Elemente der Staatsbürgerschaft verstehen. Zuvor sagte Putins Assistent Wladimir Medinski, dass man an russischen Schulen öfter Staatssymbole loben müsse, wie es in den USA der Fall sei.
Um die Reaktion der Eltern zu verstehen, genügt es, die Kommentare zu dieser Nachricht nachzulesen. Zum Beispiel bemerkten die Bewohner von Tscheljabinsk sarkastisch, dass man dazu auch die zwanghafte Betrachtung der Abendshow des Propagandisten Vladimir Solovyev hinzufügen sollte. „Stolz auf sein Land und seine Flagge zu sein, ist gut! Aber eine Person muss es aus eigenen Stücken sein, nicht durch Zwang“, schrieb ein weiterer anonymer Kommentator. Andere glauben, dass die Schulkinder das wöchentliche Singen der Nationalhymne satthaben werden und diese Veranstaltungen nur noch mit Abscheu in Verbindung bringen werden. Es gibt aber auch positive Kommentare, auch anonym. Jemand glaubt, dass Kinder dank dieser Initiative anstelle der Texte von Rappern eher die russische Hymne auswendig lernen werden.
Keine Kanalisation
Es gibt ein Sprichwort: Der beste Weg, ein Lieblingslied zu hassen, ist, es jeden Morgen zum Wecken zu hören. Viele Kinder nehmen die Schule als Routine wahr, als Stress und die Hausaufgaben sind endlos. Strenge Disziplin im Tagesablauf. Ob die russische Hymne es verdient, ein Teil der Routine zu werden? Das glaube ich nicht. Mir persönlich genügte eine Stunde Musik und eine Stunde Literatur, um zu erkennen, dass die Musik und die Gedichte der russischen Hymne Kunstwerke sind. Die russische Hymne wird gewöhnlich mit einem feierlichen oder bedeutenden Ereignis, einem sportlichen Wettbewerb oder einem Feiertag in Verbindung gebracht. Ist der Beginn der Schulwoche ein sinnvolles Ereignis? Ich bezweifle das.
Unter welchen Bedingungen sollen die Kinder die Hymne singen? Zweifellos sind die Schulen in den wirtschaftlich entwickelten Regionen Russlands in Ordnung: Neue Gebäude werden gebaut, moderne Ausrüstung wird gekauft und regelmäßig repariert. Nach den Daten für 2021 wurden in zehn russischen Regionen jedoch mehr als 20 Prozent der Schulen nicht mit Heizungen in den Toilettenräumen ausgestattet. Dazu gehören Dagestan, Jakutien, Kalmückien und die Region Transbaikalien. Dies bedeutet, dass die Schüler in Jakutien, wo die Lufttemperatur im Winter bis zu minus 40 Grad beträgt, auf die Holztoilette gehen. Am akutesten ist das Problem in kleinen Dorfschulen mit bis zu 30-40 Schülern. Im Jahr 2020 schloss ein Gericht die einzige Toilette in einer Schule im Dorf Dunayevo. Die Toilette wurde 1971 gebaut und noch nie renoviert.
Die Regierung toleriert diese Umstände. Im Jahr 2019 stellte die russische Regierung mehr als 12 Milliarden Rubel zusätzlich für Toiletten und sanitäre Anlagen in den Schulen bereit. Im selben Jahr gab Wladimir Putin zu, dass fast 200.000 Kinder in Schulen gingen, „wo es keine normale Heizung, keine Wasserleitung und keine Kanalisation gibt“.
Wenn die Behörden wollen, dass russische Schulkinder so patriotisch sind wie Kinder in den USA, warum können sie dann ein so einfaches Problem wie die Reparatur von Toiletten nicht lösen?
Daraus ergibt sich die Hauptfrage: Was verbirgt sich wirklich hinter dem Wunsch der Regierung, in Kindern ein Gefühl des Patriotismus zu erziehen? Ich glaube, es ist Angst. Diese Angst verstärkte sich erst nach dem Einmarsch der russischen Truppen in das Territorium der Ukraine. Die Behörden kontrollieren schon die Strafverfolgungsbehörden, die Großindustrie und die unabhängigen Medien. Nun befürchten die Beamten, dass sich unpatriotische Stimmungen in den Schulen breitmachen. In diesem Sinne betrachtet die Regierung Kinder als ihre Einflusssphäre.
Wie erzieht man einen Patrioten?
Dabei wird Organisationen, die als „ausländische Agenten“ eingestuft sind, die Teilnahme an Bildungsaktivitäten verboten. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hat das russische Parlament vorbereitet. Das Dokument verbietet „ausländischen Agenten“ die Durchführung von Erziehungs-, Unterrichts- und Ausbildungsmaßnahmen sowie die Herstellung von Informationsprodukten für Kinder und Jugendliche. Die Abgeordneten glauben, dass die Tätigkeit von „ausländischen Agenten“ für Kinder „destruktiv“ sei und gestoppt werden müsse. Ansonsten sieht der Gesetzentwurf vor, dass ein „ausländischer Agent“ keine staatliche finanzielle Unterstützung erhalten darf.
Theoretisch könnte ein „ausländischer Agent“ nicht einmal helfen, eine neue Toilette in der Schule zu installieren. Denn es wird eine Toilette sein, die mit Geld aus ausländischen Quellen gebaut wird.
Man muss auch sagen, dass Schulkinder ihren staatsbürgerlichen Standpunkt nicht ohne unangenehme Folgen zum Ausdruck bringen können. So wurden beispielsweise im Jahr 2021 nach Demonstrationen zur Unterstützung des Oppositionsführers Alexej Nawalny viele Jugendliche von der Polizei kontaktiert. Oppositionelle wurden später beschuldigt, Kinder in illegalen Kundgebungen einbezogen zu haben.
Man kann daraus schließen, dass die Regierung einen Patriotismus von Kindern innerhalb festgelegter Grenzen erwartet. Und vorzugsweise wäre das der Patriotismus in Form des Buchstabens Z. Zum Beispiel wurden im März die Kinder aus einer Schule in der Republik Karelien in Form des Buchstabens Z aufgestellt, als symbolische Unterstützung der russischen Truppen in der Ukraine. Der Schulleiter glaubte offensichtlich, dass es notwendig sei, Patrioten auf diese Weise zu erziehen.
In Wirklichkeit ähnelt die russische Erziehung zunehmend dem Pseudopatriotismus. Aus allen Ecken werden die Schüler beschallt. Quantität statt Qualität. Wie in einem Foltergefängnis sollen sich russische Beamte täglich mit der Hymne ihres Landes beschallen lassen. Ich erinnere nur daran, dass es in der Hymne die Worte über die jahrhundertealte Vereinigung brüderlicher Völker gibt. Eine Farce.
Ivan Ruslyannikov, Jahrgang 1994, lebt als freier Journalist in Jekaterinburg. Aus dem Russischen von Artur Weigandt.