Auf den Rechnern und in den Datenbänken der großen Single-Börsen liegen die Liebesgeheimnisse fast einer ganzen Stadt: In Hamburg ist die Suche nach Romantik bereits digitalisiert, erfasst, in Tabellen gespeichert. Denn hier ist die Hochburg der Partnersuche im Netz. Vier von fünf Singles haben sich bei einem Datingportal angemeldet. Jeder sechste Hamburger nutzt diese Chance, scrollt durch Profile, klickt sich durch Fotos, schreibt Kontaktanfragen. Das ist Rekord, eine höhere Quote als in jedem anderen Bundesland. Das zumindest besagen aktuelle Zahlen (PDF-Dokument), die auf den Angaben der Onlinedating-Anbieter beruhen.
Über wenig wird so viel spekuliert und gemutmaßt wie darüber, wie die Liebe eigentlich entsteht. Aber was kommt raus, wenn man es genau wissen will, in Zahlen, Rankings, Statistiken? Für diese Geschichte haben wir in die Dating-Daten geschaut und die Menschen dahinter getroffen.
Womit ist man am erfolgreichsten in diesem digitalen Flirt-Dschungel? Zusammen mit einer Partnerbörse haben wir die Profile von 10.000 Mitgliedern ausgewertet und Überraschendes gefunden. Und dann wollten wir die Hamburger Singles treffen, die auf den Ranglisten der Zuschriften ganz oben stehen: die romantische Vanessa und Natalie, die nüchtern kalkuliert. Und Lars und Tine, die nun ein Paar sind. "Wir hätten uns auch in einer Bar kennenlernen können", sagt Lars, "aber wahrscheinlich hätten wir uns dann nicht so viel Zeit gegeben." Gibt es das also vielleicht - eine Romantik der Daten?
Ein guter Onlineflirt ist wie ein gutes Buch. "Da entsteht Kopfkino", sagt Vanessa. Und sie muss es wissen. Keine Hamburgerin wird derzeit beim Datingportal Friendscout24 mehr umworben: 289 Nachrichten bekam sie in 90 Tagen. Der Durchschnitt für diesen Zeitraum liegt bei 22 Nachrichten. Wusste sie das? Vanessa erstarrt, als sie von ihrer Spitzenposition erfährt. Und überbrückt den Moment der Überraschung mit einem Lachen. "Okay ... hm. Und wieso ist dann niemand für mich dabei gewesen?"
Unter den 23.000 Singles aus Hamburg, die regelmäßig auf Friendscout24 unterwegs sind, ist Vanessa die Begehrteste. Ihr Datingprofil: 33, lange dunkle Haare, grünbraune Augen, 1,77 m, Account-Managerin in Hamburg. Ihr Profilfoto zeigt eine lächelnde Geschäftsfrau, wer weiterklickt, sieht Vanessa entspannt im pinkfarbenen Pulli und cool mit großer Sonnenbrille.
An einem sonnigen Frühlingstag sitzt sie mittags in einem französischen Café an der Elbe. Sie lächelt viel. Gekommen ist sie mit Vespa und Trenchcoat, beige und beige. Vanessa hat frei. Und erzählt von ihrer Suche im Netz: Seit 2008 ist sie Single, vor drei Jahren versuchte sie es zum ersten Mal mit Onlinedating. Sie erlebte viele Dates mit interessanten Männern. Nur gefunkt hat es nicht. Gäbe es eine Formel für die Liebe, sagt Vanessa, die würde sie längst kennen.
Vor einigen Monaten porträtierte ein US-Magazin die vier New Yorker Singles, die beim Datingportal OkCupid die meisten Nachrichten bekommen haben: junge Männer und Frauen, die das Portal wie ein Computerspiel nutzen, die mit ausgefeilten Strategien ihre Suche immer wieder optimieren. Sie sind die Attraktivsten - und sie wollen die Attraktivsten.
Vanessa tritt bescheidener auf, in ihrem Profil und in ihren Erwartungen: Wer sie anschreibt, kann athletisch sein oder ein paar Kilos mehr drauf haben, sich modisch, sportlich oder lässig kleiden, Fast Food essen oder sich vom Gourmetkoch verwöhnen lassen, ledig sein, getrennt oder verwitwet. Schwierig wird es für die Männer erst, wenn sie eine Nachricht schreiben sollen.
"Das hat ganz, ganz viel mit Gefühl zu tun. Ich bin eine kleine Romantikerin. Online ist es nicht so romantisch - aber man kann es romantisch gestalten", sagt Vanessa. Wie das? "Wenn mir jemand schreibt, der schöne Worte wählen kann, der auf mich eingeht und einfühlsam ist. Oder es zumindest vorgibt."
Und die Männer müssen etwas von sich geben. Vanessa will niemanden, der nur von seinem Haus, seinem Auto, seinem Geld redet. Die Männer der letzten Monate wählte sie nach zarten Kriterien aus: "Sie haben signalisiert, dass sie verletzlich sind, dass sie schlechte Erfahrungen gemacht haben, dass sie vielleicht auch traurig sind. Und dass sie Kleinigkeiten wertschätzen."
Wenn ihnen das gelingt, und wenn es irgendwie passt, dann wird der Internetflirt plötzlich sehr aufregend. Dann vibriert das Smartphone und im Bauch kribbelt es.
Wenn man sich das erste Mal trifft, dann hast du schon ein gewisses Bild. VanessaDieses Kribbeln im Bauch, das ist aber auch das Problem. "Wenn man sich das erste Mal trifft, dann hast du schon ein gewisses Bild." Wie bei dem guten Buch, das als Film auf die Leinwand kommt. Beim Date trifft das Kopfkino auf die Realität: "Der Typ sitzt dir dann plötzlich gegenüber, hat eine ganz andere Körpersprache und Haltung als erwartet." So hinreißend die Internet-Romanze auch war: "Nun müssen wir uns komplett neu kennenlernen."
Je größer die Erwartung, desto tiefer der Fall. Und davon hatte Vanessa irgendwann genug. Sie entschloss sich zu dem Experiment, Männer schon nach wenigen Nachrichten zu treffen, ohne Kopfkino. "Nicht so gut", das merkte sie schnell. Die Männer wollten schnell zur Sache kommen. Lektion gelernt: "Wenn man sich ein bisschen Zeit lässt, dann ist die Einstellung des Mannes eine andere", sagt sie heute. Respektvoller, achtsamer.
Den Traummann hat sie bisher nicht gefunden. Bei ihrem wichtigsten Anspruch bleibt sie dennoch: Die Männer müssen in ihren Nachrichten ehrliches Interesse zeigen. Der Ansatz funktioniert: "Die Dates der letzten Zeit waren alle von Grund auf positiv. Das waren alles anständige Männer, die haben mich nicht angelogen."
Außer einem.
46 Jahre wollte er alt sein, für die 33-Jährige ein deutlicher Altersunterschied. Doch er fand die richtigen Worte, ihre Neugier war geweckt. Sie hatten sich eine Zeitlang geschrieben. Dann trafen sie sich. Vanessa versuchte, aus der Distanz einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, er wandte sich ab. Dann stand sie hinter ihm, tippte auf seine Schulter, er drehte sich um.
Vanessa war baff. Hatte er sich jünger geschummelt in seinem Profil?
Hatte er.
Der Mann war deutlich über 50. Ein netter Abend wurde es trotzdem - aber auch wirklich nur das. Und nur einer. "Ich habe es mit Humor genommen. Und er war ein interessanter Mensch."
Einige Wochen später erfuhr sie von einer anderen Onlindaterin, dass der Mann mit ihr als "Eroberung" angab. Heute lacht sie darüber. Ein Einzelfall. Während sie im Café sitzt, piepst die Dating-App. Eine neue Nachricht von einem Mann, dem sie häufiger schreibt? Nein, ein neuer Verehrer, der auf ihr Profil gestoßen ist.
Manchmal sprechen Männer sie auf der Straße an, dann schaut sie schnell zu Boden und hastet weiter. Für Flirts im Vorbeigehen ist sie zu schüchtern.
Vanessa arbeitet viel. Und die Partyjahre sind vorbei, sie verbringt gern Zeit mit ihrer Familie oder mit Freunden. Vanessa allein unter Pärchen.
"Wie soll man da jemanden kennenlernen?"
Standardsatz einer Generation.
Und so heilen die Onlineflirts die Konstruktionsfehler der modernen Großstadt-Romanze: Sie findet ohne Vereine und soziale Netze statt, die diesen Namen noch verdienen. Wir sitzen nicht einsam in Bars und werden vom Traumpartner angesprochen. Und irgendwann haben wir alle Freunde von Freunden kennengelernt. Kollegen daten? Das ist nicht jedermanns Sache.
Das Netz als Fluchtweg.
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Die Multimedia-Reportage "Einsame Spitze" ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Henri-Nannen-Journalistenschule und ZEIT ONLINE entstanden.
Idee, Recherche, Texte, Videos, Fotos:
Vivian Alterauge, Maja Beckers, Mareike Enghusen, Isabell Prophet, Björn Stephan, Lars Weisbrod, Amelia Wischnewski
(Teilnehmer des 35. Lehrgangs der Henri-Nannen-Journalistenschule)
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