In der Regel sind es Menschen, die umziehen. Manchmal müssen aber auch Häuser ihren Standort wechseln. Meist sind es Denkmale, die nicht abgerissen werden dürfen, aber an dem Ort, wo sie stehen, nicht bleiben können. So erging es einem Fachwerkhaus in der Nähe von Bautzen. Der Besitzer des Grundstücks wollte das halb verfallene Häuschen nicht mehr haben. Da es sich um ein architektonisches Kleinod handelt, entschieden engagierte Bürger, das Haus mit eigenen Händen umzusetzen. Iris Milde hat sie dabei ein Jahr lang begleitet.
Autorin
Das erste Mal besuche ich die Gemeinde Neschwitz bei Bautzen Anfang November 2020. Dunkle Wolken hängen tief über dem kleinen Weiler Lissahora, einem Ortsteil von Neschwitz. Wind pfeift über Wiesen und Weiden. Entfernt tuckert ein Traktor übers Feld.
Wirth
„Lissahora kommt von dem sorbischen Wort Liša Hora, das heißt Fuchsberg. Liška, das ist der Fuchs.“
Autorin
Erklärt mir Andreas Wirth, ehrenamtlicher Ortschronist von Neschwitz. Dann deutet er auf ein kleines Wäldchen unweit der fünf Anwesen von Lissahora. Der Wald heiße im Volksmund „Knochenbusch“. Denn hier in Lissahora habe der Scharfrichter des sächsischen Königs gewohnt und im Wäldchen wohl den einen oder anderen Kadaver entsorgt. Scharfrichter waren früher nicht nur für Hinrichtungen zuständig, so der Vorsitzende des Vereins Kultur- und Heimatfreunde Neschwitz Dieter Petschel.
Petschel
„Er hatte die Aufgabe, Verurteilte zu bestrafen entsprechend der Gerichtsbarkeit und er hatte auch die Aufgabe, verstorbenes Vieh zu entsorgen. Unter anderem steht auch in der Geschichtsschreibung drin, dass er auch die Fäkaliengruben im Schloss Neschwitz zu leeren hatte.“
Atmo
Planen im Wind
Autorin
Andreas Wirth und Dieter Petschel stehen an diesem grauen Vormittag vor einem winzigen Fachwerkhäuschen. Im niedrigen Türstock ist eine Sense eingeritzt. In diesem urigen Haus lebten mehrere Generationen von Scharfrichtern, unter anderem der Scharfrichter Bundermann aus der berühmten Krabatsage.
Sprecher
„Zur Hinrichtung berief Krabat den ihm bekannten alten Scharfrichter Bundermann aus Lissahora bei Neschwitz nach Dresden. Derselbe stand bei der elften Enthauptung bis über die Knöchel im Blute.“
Autorin
Nur ein schmaler Spalt trennt das Scharfrichterhaus von einem neueren Gebäude. Sein Besitzer möchte das klapprige und unbewohnbare Scharfrichterhaus am liebsten abreißen. Doch das steht unter Denkmalschutz.
Petschel
„Da hatten wir 2009 schon die erste Notsicherung und 2018 ist ein weiterer größerer Schaden entstanden hier im Dach und das Nebengebäude des Besitzers ist beschädigt worden. Ich habe dann die Leute gefragt, entweder wir machen was, wir versuchen es zu retten oder ich will davon nichts mehr hören.“
Autorin
Daraufhin schmiedeten zehn Enthusiasten um Dieter Petschel einen engagierten Plan: Das Haus sollte umziehen, und zwar auf ein Grundstück der Gemeinde Neschwitz. Als fachlichen Begleiter holte sich die Arbeitsgruppe Scharfrichterhaus Arnd Matthes von der Stiftung Umgebindehaus mit ins Boot. Die Stiftung bemüht sich um den Erhalt der für die Oberlausitz typischen Umgebindehäuser, aber auch historischer Fachwerkhäuser. Fachwerkhäuser waren, so Arnd Matthes...
Matthes
„...schon früher eine fahrende Habe, hat man gesagt dazu. Man kann die also zurückbauen, die Holznägel ziehen, das Fachwerk aufladen auf den Hänger und dann kann man das mit dem Fuhrwagen woanders hinschaffen. Das ist auch nachweislich so gemacht worden früher.“
Atmo
Tür knarzt
Autorin
Am Türstock steht die Jahreszahl 1790. Das Gebäude sei aber deutlich älter, so Arnd Matthes. Er schiebt die aus einfachen Brettern genagelte Haustür auf.
Matthes
„So, das ist dieses alte Haus, wir haben hier also den Hausflur mit der sogenannten schwarzen Küche. Dann sehen wir in dem Hausflur links und rechts beidseitig, einmal haben wir den Stubenbereich, einmal haben wir den Stallbereich oder Werkstattbereich, wo die Utensilien des Scharfrichters lagen.“
Atmo
knarrende Treppe
Autorin
Der Flur ist eng. Eine verwinkelte Treppe führt auf den Dachboden, hinter der Stube verläuft ein schmaler Gang zum Abort, von dem noch die Aussparung für den Kübel zu erkennen ist. Bis 1975 war das Haus bewohnt, zuletzt wurde es als Hühnerstall genutzt.
Atmo
Tür
Matthes
Und wir haben aber etwas festgestellt, das haben wir jetzt erst entdeckt.“
Autorin
Im Lehm einer Fachwerkwand sind schwach eingeritzte Linien zu erkennen.
Matthes
„Wir haben hier eine Darstellung, das ist eine Sense. Wir sehen auch hier die Sensenklinge ganz deutlich und hier eine Rundung, das kann auch ein Kopf sein, wie auch immer. Auf jeden Fall ist das jetzt hier ein Symbol des Scharfrichters.“
Autorin
Und noch eine bauliche Besonderheit weise auf die besondere Nutzung des Gebäudes als Scharfrichterhaus hin, zeigt Arnd Matthes am Giebel des Hauses.
Matthes
„Dann gibt es hier noch eine Durchfahrt, wo man mit einem kleinen Handwagen durchfahren konnte. Er hatte ja seine Utensilien, Henkerbeil, was man so für Utensilien braucht als Scharfrichter. Das ist etwas Spezielles die Durchfahrt, das sieht man nicht oft.“
Atmo
Arbeitsgeräusche, Stimmen
Autorin
Noch im Spätherbst 2020 beginnen die ersten Abbauarbeiten. Die Ehrenamtlichen schlagen den Lehm aus den Gefachen und sammeln ihn in Containern. Sie bergen die Staken, die Holzstangen in den Gefachen, an denen der Lehm geklebt hat. Nach dieser Entkernung nummeriert ein Zimmermann jeden Balken und baut die gesamte Holzkonstruktion auseinander.
Petschel
„Wir haben fast vier Wochen gebraucht, wo wir im Vorfeld die Wände rausnehmen mussten. Es ging anfangs ganz schön langsam, aber dann: So schnell konnten wir gar nicht gucken, wie das Haus weg war.“
Atmo
Stimmen
Autorin
Resümiert Dieter Petschel. An diesem Tag im April stehen er und vier weitere Männer aus der Arbeitsgruppe Scharfrichterhaus in der Werkstatt des Zimmermeisters Martin Fricke in Thalheim im Erzgebirge. Sie wollen „ihr“ Haus besuchen. Auf dem Boden liegen ein paar Balken zusammengesteckt zu einer Fachwerkwand.
Petschel
„Ja, und jetzt stehen wir hier und sollen und nun vorstellen, dass das wieder ein Scharfrichterhaus wird.“
Atmo
Fricke erklärt
Autorin
Der Restaurator im Zimmererhandwerk eröffnet den Vereinsmitgliedern, wie viel von der alten Substanz erhalten werden konnte.
Fricke
„Wo wir angefangen haben, habe ich mir gedacht, wenn dreißig Prozent übrigbleiben, ist das viel. Und itzo fällt mir aber immer mehr auf: Gerade in der Wand habe ich viel mehr Reparaturen eingeplant, die ich itzo sag, die lass ich. Also ich hoffe, das zwischen 40 und 45 Prozent vielleicht noch da sind.“
Atmo
sägen, Holznagel
Autorin
An vielen Balken wurden nur kleinste Stücke austauscht. Martin Fricke demonstriert, wie er alte und neue Hölzer millimetergenau zuschneidet und dann ineinandersteckt. Holznagel rein und fertig. Vereinsvorsitzender Dieter Petschel ist beeindruckt.
Petschel
„Man staunt nur, wie die das alles hinkriegen. Es ist eine Freude, zuzugucken.“
Autorin
Inzwischen treibt den Leiter der Arbeitsgruppe Scharfrichterhaus ein anderes Problem um, die Finanzierung. 96 Tausend Euro wird die Umsetzung des Scharfrichterhauses kosten. Eine Anschubfinanzierung von 50 Tausend Euro aus öffentlichen Töpfen ermöglichte, dass mit dem Bau überhaupt begonnen werden konnte. Der Rest soll mit Spenden gestemmt werden.
Atmo
Sägen, Klopfen, Stimmen etc.
Autorin
Als ich Ende Mai wieder nach Neschwitz fahre, haben Zimmerermeister Fricke und seine Kollegen innerhalb eines Tages schon fast das ganze Haus wieder zusammengesetzt.
Fricke
„Derzeit sind wir bei 60 Prozent, das wieder dasteht.“
Autorin
Für Zimmermann Fricke ist es die zweite Umsetzung eines Hauses. In Sachsen gab es seit 1990 rund 30 Hausumsetzungen oder Translozierungen, wie sie im Fachjargon heißen. Doch eine Translozierung sei immer nur das letzte Mittel, ein Kulturdenkmal zu erhalten, mahnt das sächsische Landesamt für Denkmalpflege. Ziel sei es immer, ein Denkmal in seinem Umfeld zu belassen. Das Scharfrichterhaus von Luga steht nun neben einer historischen Bockwindmühle von 1733. Beide Häuser sind also fast gleich alt werden zusammen ein winziges Freilichtmuseum bilden.
Petschel
„Unser Scharfrichterhaus passt gut zur Bockwindmühle. Und es ist beides umgesetzt worden. Die Bockwindmühle schon in den 70er Jahren und das 2021.“
Atmo
Staken sortieren
Autorin
Dieter Petschel schaut zufrieden zu, wie das Haus unter den Händen der Zimmerleute Balken für Balken wächst. Andreas Wirth und andere Ehrenamtliche machen sich indes daran, die alten Staken zu sortieren.
Wirth
„Was wir noch nutzen können, wird verbraucht, das andere müssen wir dann eben zu Feuerholz machen.“
Atmo
Staken anspitzen
Autorin
Arnd Matthes von der Stiftung Umgebindehaus spitzt die brauchbaren Staken mit dem Ziehmesser an und klinkt sie in die Gefache ein.
Matthes
„Jeder macht auch die Handgriffe, die ihm liegen. Da hat sich jeder bissel rausspezialisiert für bestimmte Dinge und diese Mischung macht's eigentlich, dass das alles funktioniert.“
Atmo
Baugeräusche
Autorin
In den Sommermonaten ist der Experte für alte Bauweisen ein ständiger Begleiter auf der Baustelle. Er führt die Ehrenamtlichen in den Lehmbau ein und zeigt ihnen, wie man alte Dachziegel aufarbeitet.
Atmo
Lehm klatschen, Lehrlinge
Autorin
Damit auch andere alte Bauweisen erleben können, hat die Arbeitsgruppe Scharfrichterhaus im September Schüler und Lehrlinge eingeladen, sich im Lehmbau auszuprobieren. An diesem Tag ist eine Gruppe Zimmererlehrlinge in Neschwitz.
Löwe
„Gerade im Moment schmieren wir erst einmal die Ränder von so einem Fach mit Lehm ein. Das muss man erstmal ganz dicht machen hier am Rand, damit am Ende keine Hohlräume entstehen.“
Atmo
Lehm auftragen
Autorin
Nils Löwe lernt das Zimmerhandwerk in einem Betrieb in Dresden. In der Denkmalsanierung kommen auch Zimmerer oft in Kontakt mit Lehmbau, erzählt er.
Löwe
„Im meiner Firma arbeiten wir viel mit Lehm und Lehmputzen, aber das wird alles mit einer Putzmaschine gemacht.“
Atmo
Lehmbauer leitet Lehrlinge an
Autorin
Nils Löwe glaubt, dass er im Berufsleben öfter mit Lehm zu tun haben wird, denn natürliche Baustoffe liegen im Trend, sagt auch Lehmbauer Michael Pohl, der die Lehrlinge an diesem Tag anleitet.
Pohl
„Das gehört eigentlich wirklich zu unserer Tradition dazu. Das wäre schade, wenn das verloren geht.“
Atmo
Lehm einsumpfen
Autorin
Dieter Petschel schaufelt indes den Lehm aus einem Container in Eimer und sumpft ihn mit Wasser ein.
Petschel
„Das ist der alte Lehm vom Fachwerkhaus, das wir zurückgebaut haben. Und das Material verwenden wir jetzt wieder.“
Petschel zu Lehrlingen
„Ihr fordert uns ganz schön hier.“
Autorin
Dieter Petschel ist erleichtert. Ihr wichtigstes Ziel hat die Arbeitsgruppe erreicht: das Scharfrichterhaus zu erhalten. Als nächstes stehen Fenster, Türen und Innenausbau auf der Agenda der Ehrenamtlichen. Dafür sammeln sie weiter fleißig Spenden. Auch wenn dann vielleicht noch nicht alles fertig sein wird, Dieter Petschel hofft, dass das neue alte Scharfrichterhaus im Frühjahr eingeweiht werden kann. Spätestens zum Deutschen Mühlentag im Mai.
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