Bremen-Findorff ist längst Deutschlands Hochburg für den Cricketsport. Dass das so ist, ist Nisar Tahir zu verdanken. Dabei wollte sie am Anfang eigentlich nur ihren Töchtern zeigen, wie der Sport funktioniert.
Frau Tahir, 2013 haben Sie in Findorff auf eigene Faust eine Cricketmannschaft gegründet. Wie kam es dazu?
Mein Mann und ich sind in Pakistan geboren. Dort ist Cricket Nationalsport, für uns ist es nach wie vor ein Stück Heimat. Mein Mann hat Cricket immer im Fernsehen geschaut. Irgendwann haben sich unsere Töchter dazu gesetzt und gesagt: „Wie funktioniert das eigentlich? Wir wollen das auch mal probieren." Ich habe mich dann informiert, was es in Bremen gibt und festgestellt: Es gibt keine einzige Cricketmannschaft. Das wollte ich ändern.
Und wie?
Zuerst habe ich an der Oberschule Findorff eine AG geleitet. Dann habe ich, unterstützt vom Deutschen Cricketbund, ein Team gegründet und eine Trainerlizenz gemacht. Das ganze Equipment haben wir damals noch von Zuhause mitgebracht. Was uns noch fehlte, war der dazugehörige Verein. Ich habe dann bei der SG Findorff nachgefragt, ob wir dort Cricket anbieten dürfen.
Wie haben die reagiert?
Sie haben gesagt: „Cricket? Kennen wir nicht. Aber wenn du dahinter stehst, dann glauben wir an dich."
Ein Jahr später wurde die Mannschaft Norddeutscher Meister, 2016 dann Deutscher Meister. Wie haben Sie das gemacht?
Ich habe immer daran geglaubt, dass wir das schaffen können. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Klar, gibt es rechts und links auch mal Kurven. Aber man muss dran bleiben, trainieren und fest zusammenhalten. Das habe ich mit meinem Team geschafft.
Gab es Momente, die Sie besonders herausgefordert haben?
Zu Beginn hatten wir weder Budget noch das nötige Equipment. Wir haben mit einem einzigen Schläger angefangen, den die Spieler immer untereinander tauschen mussten. Eine Cricket-Ausrüstung ist teuer. Man braucht Helme, Bälle, Handschuhe, Schläger und Pads, also Beinschoner. Pro Spieler kommen schnell 300 Euro zusammen. Das können sich viele nicht leisten. Erst Spenden haben uns eine eigene Ausrüstung ermöglicht. Und der Verein hat uns tatkräftig unterstützt.
Sie sind als pädagogische Fachkraft in einer Grundschule voll berufstätig. Trotzdem stehen Sie jede Woche mehrmals ehrenamtlich auf dem Cricket-Platz. Wo nehmen Sie Ihre Energie her?
Die Mannschaften sind mir sehr ans Herz gewachsen. Es gab aber auch Wochen, in denen ich erschöpft war. Ich musste lernen, Aufgaben und Verantwortung abzugeben. Ich trainiere nicht mehr, sondern übernehme hauptsächlich die Organisation. Die Mannschaft ist wie ein Kind für mich: Sie hat laufen gelernt und kann jetzt auch ohne mich.
Die Cricket-Sparte der SG Findorff hat aktuell eine Männer-Regionalliga-Mannschaft und eine Männer-Bundesliga-Mannschaft. Wer spielt in Ihren Teams?
Unsere Spieler kommen aus Vechta, Bremerhaven, Hannover, Osnabrück, Delmenhorst und Oldenburg nach Findorff. Darunter ist nur ein einziger deutscher Spieler. Alle anderen kommen gebürtig aus Pakistan, Indien, Afghanistan und Großbritannien - alles Länder, in denen Cricket als Sport von Bedeutung ist. Weltweit gilt Cricket als zweitbeliebteste Sportart. Die Deutschen aber können sich nicht so recht dafür begeistern. Sie lieben ihren Fußball.
Sie müssen zugeben: Fußball ist relativ selbsterklärend. Für den Cricket-Laien hingegen ist schwer zu verstehen, was da auf dem Spielfeld abläuft. Können Sie die Regeln erklären?
Das würde ewig dauern und ganz ehrlich: Theoretisch erklärt würde sie eh niemand verstehen. Man muss die Regeln auf dem Platz erleben und sich Schritt für Schritt aneignen.
Worum geht es bei dem Sport?
Zentral ist natürlich, mehr Punkte zu machen als der Gegner. Aber es geht noch um viel mehr als ums Gewinnen. Um Respekt und Fairness zum Beispiel.
Wenn der Brite „Das ist nicht cricket" sagt, dann meint er „Das ist nicht fair."
Genau. Cricket ist ein Gentlemen-Sport, bei dem sich Spieler tadellos verhalten. Schreien und Fluchen ist hier nicht erlaubt. Außerdem werden die Spieler regelmäßig auf die Geduldsprobe gestellt. Pro Saison spielen wir zwölf Spiele, davon sechs auswärts und sechs zu Hause. Dafür sind wir jeden Sonntag unterwegs, meistens den ganzen Tag. Cricket kann Stunden, in Ausnahmen sogar Tage dauern. Und wenn du als Spieler Pech hast, stehst du dabei nicht ein einziges Mal auf dem Platz.
Warum?
Es fangen immer feste Spieler an und bauen das Spiel auf. Wer danach reinkommt, entscheiden wir je nach Spielverlauf. Mal brauchen wir Spieler, die besser rennen können, mal welche, die besser schlagen.
Was ist das längste Spiel, das Sie je erlebt haben?
Das war unser Finalspiel der Deutschen Meisterschaft 2016 in Erlangen. Wir waren deutlich im Rückstand, haben dann doch noch aufgeholt. Das Spiel hat fast acht Stunden gedauert.
Sitzen, warten und anfeuern: Klingt erstmal nicht besonders anstrengend. Ist Cricket in erster Linie Denksport?
Ja, total.
2015 gab es in Deutschland kurzzeitig einen regelrechten Cricket-Boom. Warum?
Mit der Flüchtlingswelle kamen Menschen nach Deutschland, in deren Heimatland Cricket eine beliebte Sportart ist. Es wurden neue Vereine gegründet und Sportplätze genehmigt. In Bremen haben wir ganz tolle Unterstützung seitens der Politik erfahren. Als Deutscher Cricket-Meister stehen wir seit 2016 sogar im Goldenen Buch der Stadt.
Plötzlich hatte Ihre Mannschaft 50 Spieler. Woher wussten die Männer überhaupt, dass es in Bremen ein Cricket-Team gibt?
Eigentlich wollte ich den minderjährigen Geflüchteten zusammen mit meinen Töchtern deutsch beibringen. Wir sind damals von Zelt zu Zelt gelaufen, an der Uni und in der Überseestadt. Einmal haben wir einen Cricket-Schläger mitgenommen und gefragt, ob sie mit uns spielen wollen. Erst haben sie nichts verstanden. Als dann das Wort Cricket fiel, haben ihre Augen angefangen zu leuchten. Das Wort kannten sie noch von Zuhause.
Und dann?
Viele von ihnen wollten Teil des Teams sein. Cricket war für sie ein Stück Heimat und eine Möglichkeit, für kurze Zeit aus ihrem Elend auszubrechen. Beim Sport vergisst du alle Sorgen. Auf dem Platz können sie sich sicher sein: Hier sind sie nicht allein. Hier gibt es eine Baji, die für sie da ist.
Baji?
Baji heißt große Schwester auf Urdu, der Nationalsprache in Pakistan. So nennen mich alle Spieler beim Cricket.
Das klingt, als seien Sie auf dem Platz viel mehr als nur Trainerin oder Organisatorin.
Viele Männer hatten zuvor ihre Familie verloren und waren traumatisiert. Für einige bin ich in der Zeit zu einer Art Ersatzmutter geworden. Ich habe die Spieler aus ihren Unterkünften abgeholt und nach dem Training zurückgebracht, habe ihnen Bahntickets gekauft und Behördengänge gemacht. Um ihnen die Sprache beizubringen, habe ich auf dem Platz nur Deutsch erlaubt. Mit Erfolg.
Macht Sie das stolz?
Stolz macht mich vor allem, diese männerdominierte Sportart als Frau nach Bremen geholt zu haben. Ich bin, bis ich zwölf Jahre alt war, in einer Kultur aufgewachsen, in der Frauen kaum Gestaltungsspielraum haben. Der Glaube, Frauen seien vor allem zum Putzen, Männer bedienen und Kinderkriegen da, ist dort noch heute weit verbreitet.
Können Sie sich noch an den Moment erinnern, an dem Sie als Trainerin zum ersten Mal auf dem Platz standen?
Viele Spieler haben mir am Anfang nicht in die Augen geschaut oder mir die Hand verweigert. Eine Frau, die das Sagen hat - das war für die Männer ein richtiger Kulturschock. Aber sie haben schnell gelernt, mich zu respektieren und akzeptieren.
Wie viele von den ehemals Geflüchteten sind heute noch dabei?
Vier Spieler. Einer von ihnen hat es vom Amateurspieler bis in die Cricket-Nationalmannschaft geschafft. Aber auch als Team waren wir gerade wieder erfolgreich.
Und zwar?
Wir sind gerade erst aus Spanien zurückgekommen. Dort haben wir an der ersten European Cricket League teilgenommen. Die ist mit der Champions-League beim Fußball vergleichbar - alle nationalen Cricket-Meister, insgesamt acht Mannschaften, treten dort gegeneinander an.
Wie ist es gelaufen?
Das erste Spiel gegen Italien haben wir haushoch verloren. Danach haben wir uns drei Stunden lang zusammengesetzt und uns neu sortiert. Wir haben es bis ins Finale gegen die Niederlande geschafft und sind inmitten von Profimannschaften zweiter geworden.
Was ist Ihr Erfolgsrezept?
Uns war immer klar: Aufgeben ist die letzte Option.
Zur PersonNisar Tahir (50)
lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Bremen-Findorff. 2013 hat die gebürtige Pakistanerin bei der SG Findorff die erste und einzige Cricketmannschaft Bremens gegründet. Ursprünglich ein Spiel für die britische Elite, ist Cricket vor allem in den Ländern des Commonwealth - etwa Indien, Pakistan und Südafrika - kulturell stark verankert. Dort hat der Sport einen Stellenwert wie bei uns der Fußball.
Zur SacheSo funktioniert Cricket
Spieler: Es spielen zwei Mannschaften mit je elf Spielern gegeneinander. Sie unterscheiden sich in eine Feld- und eine Schlagpartei. Pro Runde stehen sich zwei Spieler der schlagenden Mannschaft sowie elf Spieler der werfenden Mannschaft gegenüber.
Ablauf: Ziel des Werfers ist es, mit dem Ball das Wicket (Tor) zu treffen. Der Schlagmann hingegen versucht, den Ball möglichst weit über das Spielfeld zu schlagen. Aufgabe des Feldteams ist es, den Ball möglichst schnell wiederzuerlangen und ein Tor einzuwerfen. Solange der Ball nicht zurück ist, versucht der Schlagmann so oft wie möglich, zwischen den Toren hin- und her zu laufen und Punkte zu sammeln. Ist der Schlagmann noch unterwegs, während ein Feldspieler das Wicket trifft oder sein weggeschlagener Ball direkt aus der Luft gefangen wird, ist er „Aus" und wird durch einen anderen Schlagmann ersetzt. Erst wenn alle Schlagmänner ausgeschieden sind, ist eine Runde zu Ende, die Teams wechseln dann die Parteien. Ein Spiel kann mehrere Stunden bis Tage dauern.
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