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Ethikkommissionen: Des Forschers Gewissen

Ethikkommissionen wachen über das Wohl des Patienten in klinischen Studien - womöglich nicht mehr lange. Diese müssen demnächst aber womöglich oft ohne diesen Anwalt auskommen.


Soll Lukas Tabletten nehmen, damit er in der Schule funktioniert? Nein, fanden seine Eltern: "Wir wollten ihn nicht mit Chemie vollpumpen", erinnert sich sein Vater. Doch im Laufe der vierten Klasse wurde klar, dass es so nicht weitergehen könne. Lukas scheiterte immer wieder an den eigenen hohen Ansprüchen. Auch mit den Mitschülern gab es Schwierigkeiten. Immer öfter entlud sich der angestaute Frust in Gewaltausbrüchen. "Es ging so weit, dass von der Schule schon morgens um halb neun ein Anruf kam. Wir müssten unser Kind abholen, hieß es", sagt die Mutter. Sie habe gewusst, dass ihr Junge sehr viel Potential hat, "aber es kam nicht heraus".

Vom Familienhelfer des Jugendamts erfuhren die verzweifelten Reisingers ( Name von Red. geändert) schließlich von einer neuen Therapie, die an der Uniklinik Freiburg getestet wurde. Der Wirkstoff Ziprasidon, so hofften dort die Psychiater Christian Fleischhaker und Klaus Hennighausen, könnte vielleicht Kindern wie Lukas helfen, ihre oft großen Begabungen wieder zu entfalten. "Ziprasidon ist für psychische Erkrankungen von Erwachsenen sehr effektiv. Doch es gab noch keine Untersuchungen über die Wirkung bei Jugendlichen", erklärt Fleischhaker. Die Untersuchung der Mediziner sollte nun beweisen, dass nicht nur Erwachsene mit einer Schizophrenie oder einer Manie von dem Medikament profitieren können, sondern auch besonders impulsive und aggressive Jugendliche.

Für Lukas und seine Familie war die Teilnahme an der Studie ein Weg, sich an das Thema medikamentöse Behandlung heranzutasten. "Wenn die Ärzte gesagt hätten, er muss das jetzt kriegen, wäre es uns sehr schwer gefallen", sagt seine Mutter. So aber habe man sich immer sehr gut betreut gefühlt und jederzeit Fragen stellen können. "All das war für uns sehr hilfreich", sagt die Frau.

Studien mit Medikamenten sind nicht nur für den Arzt, sondern auch den Patienten immer ein Aufbruch Richtung Neuland. Damit aus der Reise für keine der beiden Parteien ein Himmelfahrtskommando wird, hat der Gesetzgeber den Wissenschaftlern enge Grenzen gesetzt. Jeder ihrer Schritte wird streng reguliert und dokumentiert. Medikamentendosen und Behandlungspläne sind klar festgelegt. Vor allem aber: Bevor die erste Pille verabreicht wird, müssen die Forscher einem Kontrollgremium belegen, dass sie niemandem Schaden zufügen werden.

Ohne das Okay einer Ethikkommission darf in Deutschland kein Versuch mit Menschen gemacht werden. Sie wachen darüber, dass der Wissenschaftler den Arzt in sich, der in erster Linie dem Wohl seines Patienten verpflichtet ist, nicht vergisst, wie es Hanjörg Just, langjähriger Vorsitzender der Freiburger Kommission, umschreibt. Und sie vertreten bei der Planung der Studie die Interessen der teilnehmenden Kranken.

Diese müssen demnächst aber womöglich in vielen Fällen ohne diesen Anwalt auskommen. Im Sommer 2012 bekam Just erstmals den Entwurf eines neuen Gesetzes in die Hände, das Macht und Kontrolle bei Patientenstudien völlig neu regeln will. Der Mediziner war entsetzt: Für die Zukunft, so konnte er dort lesen, plane die Europäische Kommission zum Beispiel, den Schutz von nicht-einwilligungsfähigen Patienten deutlich herabzusetzen.

Bislang dürfen Kinder und andere Menschen, die nicht selber über die Teilnahme an einer Studie entscheiden können, nur minimalen Risiken ausgesetzt werden. Laut dem neuen Entwurf würde sich das ändern: Denn in Zukunft soll jeweils der Nutzen für die öffentliche Gesundheit gegen das Risiko der Probanden abgewogen werden. Während die aktuelle Gesetzeslage verlangt, dass die Interessen der Patienten stets über denen von Wissenschaft und Gesellschaft stehen müssen, streicht der aktuelle Entwurf das "stets". Geht es dabei wirklich nur um eine Verschlankung des juristischen Textes?

Nein, meint zumindest der Arbeitskreis der deutschen medizinischen Ethikkommissionen: Der findet die Gesetzesvorlage "bestürzend". Ihr Vorsitzender Joerg Hasford sieht das bisher in Deutschland sehr hohe Schutzniveau für Studienteilnehmer "substantiell gefährdet". Ein Grund: Das neue Gesetz sehe nicht mehr vor, dass jede geplante Studie von einer unabhängigen Ethikkommission geprüft wird.

In Zukunft soll stattdessen das Jawort eines noch nicht näher beschriebenen Gremiums ausreichen. Noch problematischer: Handelt es sich um eine Studie, die gemeinsam in verschiedenen Ländern durchgeführt wird, reicht die Zustimmung aus einem einzigen Mitgliedsstaat. Die anderen Länder könnten anschließend die Durchführung der Studie in ihrem Territorium kaum noch verwehren, ihre Kontrollorgane hätten nur noch ein sehr eingeschränktes Mitspracherecht. Welches Land die jeweilige Prüfung des Antrags vornimmt, dürften sich sogar die Unternehmen selbst aussuchen. "Dadurch, dass das Gesetz bindend für ganz Europa ist, könnten Pharmastudien in Ländern mit geringerem Schutzniveau zugelassen werden", meint auch Joerg Hasford.

Dabei unterstützt der Professor für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie der LMU München sogar einige der Ziele des Entwurfes. So sollen klinische Studien in Zukunft einfacher beantragt werden können. Momentan, das findet auch Hasford, verhinderten einzelne bürokratische Hürden manche unabhängige Studie. Doch mit dem momentanen Vorschlag, sagt er, schieße die EU deutlich über das Ziel hinaus und gefährde das Wohlergehen der Teilnehmer an Studien.

Selbst der Verband der forschenden Pharmaunternehmen ist nicht zufrieden. Schließlich, so argumentieren die Pharmaindustrielobbyisten, würden spätestens von den Arzneimittelzulassungsbehörden das Jawort der Ethikkommissionen verlangt. "Durch hohe Standards muss das bestehende Vertrauen der Studienteilnehmer erhalten bleiben", sagt Siegfried Throm, Geschäftsführer des Verbands für den Forschungsbereich.

Lukas hätte ohne dieses Vertrauen sicherlich nicht an einer Studie teilgenommen. Denn eines, das zeigt sein Fall noch einmal deutlich, muss für den Patienten stets dabei garantiert sein: Dass er keinen Schaden nimmt. Wirklich geholfen hat dem Schüler die Pille nicht. Zwar verspürte Lukas schnell eine leichte Besserung. Doch insgesamt, so das Ergebnis der Studie, war der positive Effekt im Schnitt kaum besser als die Wirkung eines Scheinmedikaments. "Ziprasidon hatte in der geringen Dosis, welche wir getestet haben, zwar keine größeren Nebenwirkungen - aber es war leider auch nicht ausreichend wirksam", so der Psychiater Fleischhaker. Zur Wissenschaft gehört auch, dass sie scheitert; zur Medizin, dass dies für den Patienten keine gefährlichen Konsequenzen hat.

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