„Wir kriegen 300 Mark für unseren Auftritt, wir müssen uns ein Auto besorgen, bringen die Anlage mit, schlafen sogar in Zelten - und jetzt sollen wir für diese Scheiß Schmalzstullen bezahlen?!" Als die Band Ton, Steine, Scherben Anfang der 70er Jahre mal wieder bei einer irgendwie linken Veranstaltung spielt, platzt auch Rio Reiser der Kragen. Bei allen Sympathien für Solidarität und die Ziele „der Bewegung" können sie als Musiker nicht immer nur drauf zahlen, dann müssten sie irgendwann ganz aufhören. Die tumultige Szene endet im Zerwürfnis mit den linken Veranstaltern - und ist einer der Schlüsselmomente für die Erzählung des Theaterstücks „Rio Reiser - Mein Name ist Mensch". Es feierte gestern seine vom Publikum frenetisch umjubelte Berlin-Premiere.
Das als „Schauspielmusical" beworbene Rock-Theater-Stück stammt von Frank Leo Schröder und Gert C. Möbius. Letzterer ist einer der beiden Brüder von Rio Reiser (Ralph Möbius), der sich auch um das kulturelle Erbe des 1996 verstorbenen, ikonischen Sängers, Musikers und Songschreibers kümmert. Die biografisch angelegte Aufführung lief ab November 2018 und sehr erfolgreich im Hans-Otto-Theater Potsdam (Autor: Heiner Kondschak, Regie: Frank Leo Schröder), jetzt bringt die Komödie am Kurfürstendamm eine von Schröder/Möbius überarbeitete Fassung ins vorübergehend bezogene Schiller-Theater. Und rückt sie damit sozusagen noch näher ans Geschehen der Jahre, in denen es mit den „Scherben" begann: Mit den 68er Studenten-Protesten auf der Straße - und dem Mord an Benno Ohnesorg nahe der wenige hundert Meter vom Schiller Theater entfernten Deutschen Oper - und mit Wohn-Übungsraum-Gemeinschaften, Politaktivismus und Hausbesetzungen im Kreuzberger Millieu.
Die Power, die diese urgewaltigen Tracks brauchen
Diese Geburtsphase der Band, die sich Ende der 60er gründete, um Wahrheiten ungeschminkt zu singen, Wut und Gegenwehr in eingängigen Songs zu kanalisieren und damit die einfachen Menschen aufzurütteln, wird flott und mit Wucht erzählt - und vor allem hart gerockt: Die Schauspielerinnen und Schauspieler spielen selbst Gitarren, Bass, Schlagzeug, Keyboards, Saxofon, sie singen und sie performen die Songs. Und das keineswegs schlecht, im Gegenteil. Zeitlosen Anarcho-Krachern, wie dem hymnischen „Keine Macht, für Niemand!" verleiht das durchweg junge Ensemble mit seinem von Beginn an überzeugenden Spiel die Power, die diese urgewaltigen Tracks brauchen.
Auch die Atmosphäre, der Zeitgeist kommen gut rüber, bekifftes WG-Feeling, Angst vor Polizei und Räumungen - und ständig schleicht sich eine subversive Verfassungsschutz-Wanze durch die Szenerien. Das alles ist gut getroffen, nur ganz selten etwas abziehbildhaft, gleichwohl großartig vom elfköpfigen Ensemble umgesetzt, das in kurzer Zeit in enorm viele Rollen schlüpft.
Die Übergänge zwischen Sprechszenen und Songs sind fließend inszeniert, mal mit Übungsraum-Anmutung, mal mit Live-Flair, oft aus der Situation der Handlung heraus entstehend oder in eine neue übergehend. Da aber (ein Glück) keine Dialoge gesungen werden - stattdessen tragen die für Rocksongs gedachten Texte die Erzählung weiter - umschifft die feinfühlige Inszenierung die (von mir) gefürchteten Peinlichkeits-Momente verkitschter Musicalisierung. Vielmehr gibt sie dem geradlinigen Rock adäquaten Raum, sogar für diverse Gitarrensoli.
Gleichwohl ist es natürlich kein Scherben-Cover-Band-Konzert sondern ein Theaterstück, wenn auch mit viel livehaftigem Rock. Mich erinnert die häufig organische Verschmelzung von in sich geschlossenen Rocksongs und tragenden Sprechszenen in seiner Machart an Grips-Theater-Stücke für Jugendliche.
Tatsächlich dürfte „Rio Reiser - Mein Name ist Mensch" auch für ein junges Publikum funktionieren (also alle unter 40 ;-) Denn das mit rund zweieinhalb Spielzeit recht üppige Stück (unterbrochen von einer Pause) verhandelt anhand Rios Lebenslauf viele Fragestellungen, die sich von den Zeiten abheben, in denen sie bei ihm entstanden sind (die späten 60er bis frühen 90er Jahre). Auch wenn viele … hier weiterlesen
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