Die junge Frau schließt die Augen. Sie sitzt irgendwo in der Dunkelheit des nächtlichen Frankfurts an ein Gitter gelehnt. Jemand hält ihr eine Crack-Pfeife hin. Sie zieht daran, inhaliert tief, öffnet dann langsam die glasigen Augen. Schnitt. Die gleiche Frau, ihr Name ist Julia, schiebt einen Kinderwagen durch den Regen. Darin sitzt Samuel, drei Jahre alt.
Der Film, der die Geschichte dieser außergewöhnlichen Familie erzählt, heißt „Ein bisschen Normalität". Es ist das Werk der jungen Regisseure Thomas Toth (29) und Michael Schaff (26), die an der Hochschule Mainz Mediendesign studiert haben. Die 15-minütige Dokumentation über ein Leben zwischen Drogensucht und Mutterrolle ist ihre gemeinsame Bachelor-Arbeit.
Julia war mit zwölf Jahren Frankfurts jüngste Drogenabhängige. Inzwischen ist sie in einem Substitutionsprogramm, kämpft noch immer mit ihren Dämonen: dem vermeintlich einfacheren Weg, wieder zu den Rauschmitteln zu greifen. Nur ihr kleiner Sohn hält sie davon ab. „Samuel ist ihr Ein und Alles, er hat ihr Hoffnung gegeben", sagt Toth über seine Protagonistin.
„Ein bisschen Normalität" erlaubt dem Zuschauer tiefe Einblicke in Julias Seele. Denn dort, wo Menschen eigentlich ihre Gefühle überspielen, wo sie sich in Ausreden flüchten oder zu vertuschen suchen, entscheidet diese sich für eine Art seelischen Exhibitionismus. Sie zeigt schonungslos ihre Abhängigkeit, ihren ständigen Kampf. Um einen so ehrlichen Film machen zu können, waren Schaff und Toth über mehrere Wochen mit Julia unterwegs, durch Frankfurt, durch ihr Leben, durch ihre Vergangenheit.
Die Dokumentation verwebt durch raffinierte Montage die zwei Welten, in denen die Drogenabhängige sich bewegt: Einerseits der nächtliche Untergrund, Rausch und Wahn, andererseits die Tage mit Samuel, das Ballspielen, der Obstteller, die Mutterliebe. Einmal sitzt Julia zugedröhnt auf einer Rolltreppe in der Frankfurter U-Bahn. Sie lässt sich herunterfahren, schafft es kaum aufzustehen. Schnitt. Es ist Tag, die Sonne scheint. Samuel, mit gelber Mütze und kurzer Hose rennt auf Julia zu. Die beiden lachen. Ein Moment des Glücks.
Den Jungregisseuren war wichtig, Julia in ihrer Ganzheit und würdevoll darzustellen. „Es ist unser Film, aber auch ihrer", sagt Toth. Um das zu erreichen, haben sie die 33-Jährige durch ihren Frankfurter Alltag begleitet. Die Bilder, die dabei entstanden, machen die Stadt zu einem Symbol für ihr Leben zwischen Hauptbahnhof, Bankentürmen und Spielzeug. „Wärst du nicht, wäre ich schon tausendmal hier runtergesprungen", sagt Julia irgendwann zu ihrem Sohn und blickt von einer Brücke auf den Main.
„Ich bin sehr behütet aufgewachsen", erzählt Schaff von seiner Faszination für das Leben von Menschen am Rande der Gesellschaft. Er habe eine gute Kindheit und Jugend gehabt. Dann sah er irgendwann die Leute in Frankfurt, die sich auf dem Boden liegend Drogen fixen. „Ich wollte wissen: Wie enden die da?"
Mit seinem Freund Toth begab er sich Anfang 2014 auf die Suche nach einem Protagonisten. Sie fanden Julia, es passte sofort. Derzeit wird „Ein bisschen Normalität" bei Wettbewerben aufgeführt und feiert schon erste Erfolge. Beim Frankfurter Lichter Filmfest ist die Dokumentation etwa mit dem weißen Bembel für den besten regionalen Kurzfilm ausgezeichnet worden.
Julia war bei der Premiere dabei. „Michi hat ihre Hand gehalten, sie hat geweint, es war sehr emotional", erinnert sich Toth. Die drei haben noch immer Kontakt. Sie sind Freunde geworden. „Julia ist ein besonderer Mensch. Es ist extrem, dass sie sich uns so geöffnet hat", findet auch Schaff. Bei der Premiere habe Julia eines der T-Shirts zerschnitten, die sie ihm Film trägt. „The never ending story" steht darauf.
Doch trotz der Hoffnung und des bisschen Normalität, das Julia und Samuel sich zu bewahren versuchen, schwingt eines im Film immer mit: „Es holt dich, wenn du es zulässt, immer wieder ein. Immer und überall."