"Menschen mit Behinderungen sollten einen guten Platz in einer Einrichtung, Werkstätte oder in einer Sonderschule bekommen" - solche Äußerungen hört man nur allzu oft, wenn es darum geht, was Menschen mit Behinderungen zum Leben brauchen. Es scheint, als sei eine Welt, in der sich Menschen mit und ohne Behinderungen ganz selbstverständlich in Schulen, Universitäten, Arbeitsstätten und Nachbarschaften begegnen, undenkbar. Politiker*innen, die soziales Engagement missverstehen, posieren beim Neubau von Einrichtungen gemeinsam mit Vertreter*innen der Heimträger. Dabei ist das Festhalten an Parallelwelten für Menschen mit Behinderungen - bewusst oder unbewusst - Teil der Inklusionsverweigerung unserer heutigen Gesellschaft.
Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderungen sind nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vereinbar, wie der Fachausschuss der Vereinten Nationen feststellte. Deutschland und Österreich haben sich mit der Unterzeichnung der UN-BRK vor über zehn Jahren dazu verpflichtet, Sorge zu tragen, dass Menschen mit Behinderungen ihr Leben selbstbestimmt und unabhängig führen können. Seitdem ist in der Hinsicht allerdings nicht viel passiert, es sind sogar massive Rückschritte zu erkennen. In Österreich, das bemängeln UN-Fachausschuss und Unabhängiger Monitoringausschuss, ist kein Prozess zur De-Institutionalisierung in Sicht - es werden sogar neue Einrichtungen gebaut. Auch in Deutschland fehlt eine ernst zu nehmende Strategie zum Abbau von Heimen. Diese Strategie braucht es aber, wenn wir die Rechte von behinderten Menschen, so wie sie in der UN-BRK festgeschrieben sind, durchsetzen wollen. Denn wer in einem Heim lebt, wird meist zwangsläufig in der persönlichen Selbstbestimmung beschnitten: Schon aus organisatorischen Gründen verläuft das Leben in Strukturen und Regeln, die den Handlungsspielraum für Bewohner*innen einschränken. Privatsphäre sowie gelebte Liebes- und Sexualbeziehungen bleiben auf der Strecke. Auch das Thema Elternschaft ist im System Heim ausgeblendet. Es ist nicht vorgesehen, dass institutionalisiert lebende Menschen mit Behinderungen und besonders Menschen mit Lernschwierigkeiten - Menschen mit "geistiger Behinderung" ist ein falscher Begriff für diese Gruppe, der ein irreführendes Bild vermittelt - Partnerschaften und Kinder haben (wollen). In den eigenen vier Wänden zu leben ist mit Freiheiten verbunden, die für die meisten nicht behinderten Menschen selbstverständlich erscheinen. Sie entscheiden über Besucher*innen, über Essens- und Schlafzeiten und gestalten auch den übrigen Alltag so, wie es ihnen gefällt. In Einrichtungen sieht das oft ganz anders aus.
Monika Rauchberger hat lange Zeit in Heimen gelebt und in einer Werkstätte für ein Taschengeld gearbeitet, bevor sie es geschafft hat, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Freund und erhält Persönliche Assistenz. Im Heim sei sie nicht ernst genommen und wie ein Kleinkind behandelt worden, erzählt die 51-Jährige im Gespräch. Auch Gewalterfahrungen habe sie dort erlebt: "Das Essen wurde mir in den Mund gestopft, oft wäre ich dabei fast erstickt. Auch das Erbrochene haben sie mir zurück in den Mund gestopft." Rauchberger arbeitet seit 13 Jahren als Leiterin der Beratungsstelle wibs in Tirol, eine Organisation der Behindertenbewegung Selbstbestimmt Leben. Dort beraten Menschen mit Behinderungen andere Menschen mit Behinderungen und helfen ihnen zum Beispiel, wenn sie eine andere Wohnform für sich finden wollen. "Es muss sich noch viel ändern. Menschen mit Behinderungen müssen sich aussuchen können, wie sie leben. Sie müssen erfahren, dass es noch andere Wohnmöglichkeiten außer Heime gibt", fordert Rauchberger. "Selbstbestimmung heißt, die Kontrolle über das eigene Leben haben. Ich kann jetzt essen, was ich will und wann ich will, ich gehe ins Bett, wann und mit wem ich will. Niemand soll uns das eigene Leben abnehmen."
Doch nicht nur die Selbstbestimmung kommt in Einrichtungen zu kurz. Sie bergen auch ein Risiko, physische, psychische und sexualisierte Gewalt zu erfahren. Das geht aus einer Ende 2019 präsentierten Studie des österreichischen Instituts für Kriminalsoziologie (IRKS) hervor, in der 376 erwachsene Menschen mit Behinderungen befragt wurden, die in institutionellen Settings leben oder arbeiten: Vier von zehn Befragten gaben an, mindestens einmal in ihrem Leben schwere Formen körperlicher Gewalt erlebt zu haben. Dazu gehört unter anderem geschlagen oder verprügelt worden zu sein oder das absichtliche Herbeiführen von Verbrennungen durch heiße Flüssigkeit. Menschen, die auf Hilfe bei der Körperpflege angewiesen sind, seien besonders gefährdet. Mehr als acht von zehn Personen haben psychische Gewalt erfahren, sechs von zehn Personen in einer schweren Form, wie gefährliche Drohung oder hartnäckige Belästigung. Jede*r Dritte war von schwerer sexualisierter Gewalt mit direktem Körperkontakt bis hin zu Vergewaltigungen betroffen. Für Frauen mit Behinderungen ist die Gefahr, diese Gewaltform zu erleben, höher als für Männer. Als Gewalt ausübende Personen wurden am häufigsten Menschen aus dem Einrichtungskontext (Mitbewohner*innen oder, in geringerem Maße, Betreuer*innen), im Ausbildungsbereich (hauptsächlich psychische Gewalt durch Mitschüler*innen) und aus der eigenen Familie genannt.
Rétablir l'original