Im Oktober rauschte das Chineke!-Jugendorchester durch die englischsprachigen Schlagzeilen: Anders als angekündigt spielten die Musikerinnen und Musiker vor ihrem Auftritt beim Lucerne Festival nämlich doch nicht die britische Hymne zu Ehren der verstorbenen Queen Elizabeth, sondern schlicht ihr normales Programm. Ein Skandal ist das allein noch nicht, Gott bewahre. Die Begründung aber, die Chi-chi Nwanoku, die Gründerin des Ensembles, für die Entscheidung lieferte, nahmen sich all jene zur Steilvorlage, die die Klassik durch vermeintliche "wokeness" in Gefahr sehen: Das Orchester bestehe zum großen Teil aus Musikerinnen und Musikern, deren Vorfahren vom Empire versklavt wurden, schrieb Nwanoku in einer E-Mail - und die stehe für dieses auf Rassismus und Ausbeutung gegründete System: "Wir werden in Luzern nicht die Nationalhymne spielen", so Nwanokus unmissverständliche Worte. Und der Shitstorm begann.
Die beiden Chineke!-Ensembles - das Youth Orchestra und das Profi-Orchester - sind nicht die ersten der Geschichte, die politische Programm-Entscheidungen treffen. Sie sind jedoch die ersten europäischen Orchester, in denen mehrheitlich Menschen spielen, die bis vor wenigen Jahren noch kaum auf den Konzert- und Opernbühnen zu sehen waren: schwarze Menschen und People of Color, oder, wie Chi-chi Nwanoku sagt, "schwarz und ethnisch divers". In einer weiß geprägten Welt habe ein Orchester wie dieses mit einer ganz anderen Qualität von Gegenwind umzugehen, erklärt sie - schließlich bewege man sich in einem System, das nichtweiße Menschen jahrhundertelang ausgeschlossen habe.
"Bitte nennt mich nicht ›non-white‹", interveniert Nwanoku direkt zu Beginn unseres Gesprächs Anfang November, zugeschaltet per Videochat, in ihrer Wohnung in London: "Ich nenne euch doch auch nicht ›non-black‹. Das klingt, als wäre Weißsein die Norm und alles andere eine mangelhafte Abweichung." Genauso benutze sie auch bewusst nicht den Begriff der Minderheit, sagt sie, "denn eigentlich sind wir die globale Mehrheit".
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Als erschütternd habe sie den Moment erlebt, in dem sie vor einigen Jahren verstand, dass hinter der krassen Unterrepräsentation dieser globalen Mehrheit auf den kulturellen Bühnen System steckt. Beim Empfang nach einem Konzert des mehrheitlich schwarzen Kinshasa Orchestra im September 2014 waren außer ihr nur Weiße zugegen, sie empfand sich als "Elefant im Raum". "Es war lächerlich", sagt Nwanoku. "Auf dem Rückweg zum Bahnhof dachte ich: Wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Schwarze Menschen in der Klassik können doch nicht als Neuheit oder etwas Ungewöhnliches betrachtet werden."
Genau 364 Tage später betraten 62 Musikerinnen und Musiker of Color die Bühne im Londoner Southbank Centre, um Werke von Ludwig van Beethoven und Samuel Coleridge-Taylor zu spielen - es war das denkwürdige erste Konzert des Chineke!-Orchesters. "Zum ersten Mal in meiner über 30-jährigen Karriere sah das Publikum aus wie die Bevölkerung meiner Stadt", sagt Chi-chi Nwanoku. Bis zu diesem Tag hätten sich viele Menschen in klassischen Konzerten nicht willkommen gefühlt, sagt sie, einschließlich ihrer eigenen Familie. "Ich habe so viele Menschen im Publikum weinen sehen, vor Erleichterung. Auf einmal fanden sie sich repräsentiert." Das ist jetzt sieben Jahre her.
Diesen Sommer nun entschied sich auch Michael Haefliger, der Intendant des Lucerne Festival, die beiden Chineke!-Orchester einzuladen, mehr noch: Chi-chi Nwanoku hielt die Begrüßungsrede, das Jugendorchester eröffnete das Festival, und das Profi-Ensemble beendete es. Haefliger wurde gelobt für diese Setzung, erntete aber auch Kritik. Erstaunlicherweise kam die nicht hauptsächlich von konservativer Seite, sondern von der anderen: Man unterstellte ihm "tokenism" - eine Praxis, die schwarze Menschen und People of Color missbraucht, um das eigene Image aufzupolieren. Ein Beispiel, das Chi-chi Nwanoku selbst erlebt hat: Für einen Videodreh platzierten die Verantwortlichen drei schwarze Personen in ein sonst weißes Orchester, damit das Ganze etwas diverser aussieht. Weiterbeschäftigt wurden sie danach jedoch nicht. "Früher habe ich solche Angebote oft angenommen", sagt Chi-chi Nwanoku, "denn ich dachte: Es springt immerhin Geld raus für meine Leute. Doch dann bekam ich oft die Rückmeldung, dass sie sich extrem unwohl gefühlt haben. Mittlerweile sage ich bei so etwas konsequent Nein."