Die Bilder aus der Ukraine, die täglich den Krieg mit all den Grausamkeiten dokumentieren, lösen bei Melanie Silbermann immer wieder intensive Erinnerungen aus. "Ich fühle das Geschehen direkt", sagt sie. Wer ihre Lebensgeschichte kennt, wird das verstehen. Silbermann war fast zehn Jahre für Ärzte ohne Grenzen in Kriegsgebieten unterwegs. Jetzt arbeitet sie in Bremen, engagiert sich aber noch immer für den Verein, zu dessen Vorstand sie seit dem vergangenen Jahr gehört.
Die 50-Jährige hat ihr Engagement für Ärzte ohne Grenzen mit Ende 20 begonnen. Für ihren ersten Einsatz ging sie 2004 nach Somalia und versorgte dort unterernährte Kinder. Das ostafrikanische Land lag zu diesem Zeitpunkt in den Händen mehrerer Clans. "Sie verhandelten den Alltag, also all das, was normalerweise über Gesetze und politische Entscheidungen geregelt wird", sagt Silbermann, eine schlanke Frau mit kurzem blondem Haar. In Somalia lernte sie, wie ein Schuss in unmittelbarer Nähe klingt: "Ich dachte zunächst an Feuerwerk. Sobald ich realisiert habe, dass es sich dabei um eine Schießerei handelte, kam schon die Angst."
Leben und Arbeiten hinter dem Zaun
Aufgrund der unübersichtlichen Lage in Somalia durften Silbermann und ihre Kolleginnen und Kollegen einen eingezäunten Bereich nicht verlassen. Auf einer Wiese hatte Ärzte ohne Grenzen eine provisorische Krankenstation errichtet. Tagsüber versorgte sie dort zusammen mit einem kenianischen Arzt und einer schwedischen Pflegekraft unterernährte Kinder und schwangere Frauen. Geprägt hat sie dabei vor allem eine Erkenntnis: "Ich konnte mit total wenigen Mitteln viel erreichen." Abends zog sie sich mit dem Team in ein abgeschottetes Camp zurück. Sie lebte dort in einem kleinen Zimmer, im Gemeinschaftsraum schauten sie ab und zu einen Film und aßen gemeinsam. Abwechslung wie ein Restaurant- oder Kinobesuch gab es lediglich in Nairobi, etwa eineinhalb Flugstunden von der somalischen Hauptstadt Mogadischu entfernt.
Nach
neun Monaten kehrte sie zurück ins heimische Wuppertal und kündigte
ihren Job als Krankenpflegerin. Die Zeit in Somalia vergrößerte bei ihr
den Wunsch, ihre pflegerischen Fähigkeiten dort einzusetzen, wo sie akut
und bedingungslos benötigt wurden. 2005 bewarb sie sich erneut bei
Ärzte ohne Grenzen, diesmal ging es nach Turkmenistan.
"Lobbyarbeit" für medizinische Forschung
Das Hin und Her zwischen zwei Welten – zwischen europäischem Supermarktregal und Dosennahrung oder Latrinen – bereitet ihr dabei wenig Probleme: "Wenn ich da bin, bin ich da. Wenn ich hier bin, bin ich hier."
In dem Land der ehemaligen Sowjetrepublik kümmerte sie sich wieder um Kinder, allerdings stand diesmal die Krankheit Tuberkulose im Mittelpunkt. Diese Erreger treten in westlichen Staaten nur noch selten auf, eine Medikation wird deswegen kaum erforscht. "Die Behandlungsmethoden sind uralt", erklärt Silbermann. Sie bezeichnet es "Lobbyarbeit", wenn es um ihre Tätigkeit geht, die internationale Aufmerksamkeit auf diese tödliche Infektionskrankheit zu lenken.
Neutrale Eindrücke?
Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Ärzte ohne Grenzen seit der Gründung 1971 in Paris bewegt. Seine Arbeit kann der heute in 25 Mitgliedsverbände aufgeteilte Verein nur machen, weil er als neutral, unparteiisch und unabhängig auftritt. Als Silbermann in der Demokratischen Republik Kongo stationiert war, gehörte es zum Alltag, sowohl mit den Rebellen als auch mit dem Militär zu sprechen. "Eine Sicherheit, um von A nach B zu reisen, bekommen wir nur, wenn wir neutral sind."
Doch wie neutral kann ein Mensch bleiben, wenn er tagtäglich mit hungernden und kranken Menschen zu tun hat, deren Leid auf korrupte Regierungen und koloniale Ausbeutung zurückgeht? Silbermann hat sich diese Frage gestellt, als sie im Kongo in ein Dorf gerufen wurde, in dem viele Menschen erkrankt waren. Sie und ihr Team testeten dort 50 Menschen positiv auf Malaria. "Ich frage mich, wie kann das sein? Malaria ist einfach zu behandeln – drei Tage Tabletten nehmen, es ist auch nicht super teuer." Silbermann spricht ruhig, wenn sie sagt, dass sie das wütend macht. "Man hat per se eine Haltung, wenn man in diesem Bereich arbeitet."
Leiten aus Leidenschaft
Während ihrer Auslandsaufenthalte übernahm Silbermann häufig eine anleitende Rolle. Sie schulte lokale Pflegekräfte und nahm Führungsaufgaben an. Verantwortung übernehmen, das merkte sie schnell, macht ihr großen Spaß. Deswegen hat sie auch 2007 in Bremen begonnen, Gesundheitsmanagement zu studieren. Mit dem Abschluss arbeitete sie in den darauffolgenden Jahren als Projektkoordinatorin für Ärzte ohne Grenzen im Kongo sowie in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR).
Silbermann liebt ihr Leben. Durch ihre Arbeit hat sie schwer zugängliche Orte kennengelernt, internationale Freundschaften geknüpft und das Leben vieler Menschen gerettet. "Diese Erfahrungen haben mich gelassener im Umgang mit Problemen gemacht", erzählt sie.
Das Problem der Verwurzelung
Doch ein Ereignis hinterlässt heute noch gemischte Gefühle: Sie war in der ZAR, als schwer bewaffnete Rebellen die Hauptstadt Bangui einnahmen. Das erste Mal bat sie anschließend um psychologische Hilfe. Die Eindrücke prägten sie. Gleichzeitig kamen Fragen rund um Heimat und Stabilität auf: "Ich habe bemerkt, dass ich meine Wurzeln in Deutschland verliere." Sie kehrte zurück nach Bremen, wo sie sich neu orientieren wollte.
2013 begann sie, in einer Pflegeschule zu unterrichten – die Leidenschaft für das Vermitteln und Anleiten hat sie behalten. Heute leitet sie drei Pflegeschulen im Bremer Umland. Silbermann war nun seit neun Jahren nicht mehr weg: "Irgendwann wird es mich aber noch einmal ins Ausland ziehen, allerdings nicht so bald."
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