Online-Verbrechen: Wie sich Hanne-Lore Neumüller im Internet verliebt und in die Fänge eines Betrügernetzwerks gerät
Beim Online-Scrabbel nutzt Hanne-Lore Neumüller ein Profilbild, das eine Eule zeigt. Auch auf der Fensterbank in ihrem Wohnzimmer stehen kleine Eulen aus Holz, auf der Kommode sind es Porzellaneulen und die Wand ziert ein Eulenkalender.
„Die Eule erinnert mich an meine Mutter. Sie hat sehr viel gelesen und Eulen sind weise Tiere.“ Zugleich sind die Nachtvögel wachsam – eine Eigenschaft, die nun auch auf Frau Neumüller zutrifft. Sie musste es werden.
Frau Neumüller ist eine Frau von 73 Jahren, eine Rentnerin, die am Bremer Stadtrand lebt. Das Alter hat ihr keine Eleganz genommen. Im Gegenteil – mit ihrem zur Seite gesteckten Silberhaar, den sorgfältig gezupften Brauen und dem farblich auf ihre blauen Augen angepassten Lidschatten ist sie eine mondäne ältere Dame.
2019 lernt sie einen jüngeren Mann kennen. Es beginnt ein aufregendes Abenteuer mit einer Wendung, die sie nie für möglich gehalten hätte.
Frühling 2022. Frau Neumüller sitzt in einer Drei-Zimmer-Wohnung am Bremer Stadtrand. Von ihrem weißen Lieblingssessel aus blickt sie durch eine Glasfront auf einen achtstöckigen Neubau, ähnlich dem, in dem sie nun wohnt. Sie erzählt ihre Geschichte nicht zum ersten Mal: „Das ist wie eine Therapie für mich.“ Die Geschichte beginnt mit dem Tod ihres Mannes. Ein Offizier, der 2016 nach langer Krankheit verstarb. 47 Jahre waren sie verheiratet.
Scrabble-Spielen gegen Einsamkeit
Kurz nachdem ihr Mann starb, wurde bei Frau Neumüller Brustkrebs diagnostiziert. Sie ging zur Reha. Im großen Bekanntenkreis fühlte sie sich oft einsam. „Ich habe gute Freunde, aber das sind alles Pärchen.“
Frau Neumüller füllt die einsamen Stunden mit virtuellen Scrabbelspielen mit Unbekannten. Im Mai 2019 öffnete sich auf ihrem Smartphone beim Buchstabenverschieben ein Chatfenster: „Hello, wie gehts?“
Frau Neumüller freut sich über das Interesse. Dass der andere kaum Deutsch spricht, stört sie nicht: „Ich fragte ihn, ob wir lieber auf Englisch schreiben sollen. Ich fand es toll, mal wieder mein Englisch aufzufrischen.“ Die beiden beginnen, sich auf WhatsApp zu schreiben.
Der Unbekannte stellt sich als Oliver Andersen vor, 55 Jahre alt, Witwer und Vater einer 13-jährigen Tochter. Er gibt vor in den USA Gold- und Edelsteinhändler zu sein. Er schickt ihr Fotos: Ein Mann mit dunklen Haaren, munterem Grinsen und gepflegtem Dreitagebart. „Er war ein Typ, der mich ansprach.“
Nichts davon irritierte Frau Neumüller, nur, dass Oliver eine Frau im höheren Alter interessant findet. „Ich habe das immer wieder angesprochen, aber er hat das wunderbar umspielt und gesagt: ,Alter ist nur eine Zahl.‘“
Liebesnachrichten Tag und Nacht
Oliver schreibt ihr: „Early mornings and late nights are the best part of my day because I get to kiss my wife. Good Morning and Good Night. I love you sweetheart, do have a lovely night.“
Ihr Verehrer spricht sie mit wife, Ehefrau, an und überhäuft seinen Schatz – sweetheart – mit Liebe. Frau Neumüller ist gerührt. Jeden Morgen und jeden Abend wartet sie auf seine Nachrichten.
Schon bald schreibt er ihr: „Would love to come to Germany.“ Er will nach Deutschland kommen, gemeinsam mit seiner Tochter. Bereits zuvor habe er Auswanderungspläne gehabt, die Zustände unter der Regierung Trump seien für ihn nicht aushaltbar. Frau Neumüller lädt die beiden in ihr großes Haus ein.
Edelsteine zum Geburtstag
Im August 2019 reist Oliver nach Dubai, um dort Edelsteine einzukaufen, erzählt Frau Neumüller. Er schnürt zwei Pakete mit kostbarer Ware zusammen, die er ihr zusammen mit ein paar Bündeln Dollarscheinen zum Geburtstag nach Deutschland schicken möchte. Er sendet ihr Fotos vom Inhalt auf WhatsApp.
Frau Neumüller will sein Paket nicht. „Ich sagte ihm, er soll lieber herkommen und die Edelsteine selber vorbeibringen.“ Sie hatte sich auf seine Bitte hin bereits erkundigt, ob er in Deutschland ein Juweliergeschäft aufmachen kann: Kein Problem – es braucht nur eine Arbeitserlaubnis.
Doch Oliver besteht weiter darauf. Frau Neumüller willigt schließlich ein. Im Chat schickt er ihr ein Foto vom Lieferschein.
Zurück in Amerika beschwert er sich das erste Mal: „You did not even ask me, if I arrived safely. Don‘t love me anymore?“ Er wirft ihr vor, sich nicht nach ihm erkundigt zu haben; gibt vor, an ihrer Liebe für ihn zu zweifeln. Frau Neumüller ist bestürzt – sie will ihn nicht verlieren.
Eingefrorene Konten und Zollkosten
Im Oktober 2019 schreibt Oliver ihr, dass seine Bank alle Konten eingefroren habe. Das sei ein Problem, denn nun könne er anfallende Kosten für die internationale Lieferung nicht mehr zahlen. Und diese koste viel, denn das Paket bleibe am Flughafen in Dubai hängen: 4000 Dollar Zollkosten. Oliver bittet Frau Neumüller um Hilfe.
4000 Dollar
Sie tut ihm den Gefallen, im Glauben die Summe schnell wiederzubekommen. Sie tätigt eine Auslandsüberweisung. Zunächst will es nicht klappen, weil sie den unbekannten Namen falsch schreibt: Amaka Banwuzia.
Hat sie der fremde Name verwundert? „Nein, ich dachte, in Amerika ist ja vieles anders.“
Spur nach Nigeria
Der Name ist das erste Indiz, dass der Weg zu ihrem Geliebten nicht in die Vereinigten Staaten, sondern auf den afrikanischen Kontinent führt. Amaka ist die Kurzform des nigerianischen Namens: Chiamaka.
Joachim Kopietz, Kriminalhauptkommissar und Präventionsbeauftragter bei der Polizei Verden, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der sogenannten Nigeria Connection: „Die Täter sind mannigfaltig unterwegs. Einzeln, und auch organisiert in Banden. Oft handelt es sich um Vorkassebetrug: Es wird eine hohe Geldsumme in Aussicht gestellt und um die zu bekommen, muss vorher eine Vorleistung erbracht werden.“
Vor Jahrzehnten waren es Massenmails von falschen Minenbesitzern, die Rohstoffe und Reichtum versprachen. Heute ist es die Liebe.
Oliver schickt Frau Neumüller regelmäßig Musik, „I belong to you“ von Jacob Lee. „Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich das Lied höre“, sagt Frau Neumüller.
Juni 2019, einen Monat später, befindet sich das Paket immer noch in Dubai, berichtet ihr Oliver. Der Zoll habe mehr Inhalt als angegeben festgestellt. Strafkosten: 36.000 Dollar.
4000 Dollar
36.000 Dollar
Oliver stellt Frau Neumüller seinen Freund Samir El Zajad vor. Ein Cousin von einem Zollbeamten in Dubai, der ihnen helfen will, schreibt Oliver. Er spricht Deutsch.
„Guten Tag, wie geht es Ihnen heute? Ich bin jetzt beim Zollamt und bitte um mehr Zeit. Ich erkläre die Situation, warum die Kurierfirma nicht gekommen ist, um die Sendung abzuholen.“ Das Englisch von Oliver, das Deutsch von El Zajad – es ist verständlich, aber es ist nicht ganz korrekt. „Die Betrüger nutzen sehr gute Übersetzungsprogramme“, erklärt Kopietz.
Kontoaktivität sorgt für Misstrauen
Frau Neumüllers Erspartes schrumpft. Da sie nie mehr als 5000 Euro auf einmal überweisen kann, geht es nur in kleinen Schritten voran. Ihrer Hausbank fallen die regelmäßigen Auslandsüberweisungen auf. Eine Bankangestellte fragte nach: „Kennen Sie den Mann?“ – „Das geht Sie gar nichts an, was ich mit meinem Geld mache.“ Frau Neumüller nutzt von nun das Konto ihrer zweiten Bank.
Immer öfters fragt nun Frau Neumüllers Tochter nach: „Gibst du diesem Mann Geld?“ Frau Neumüller antwortet: „Nein, er bekommt nichts von mir.“ Heute sagt sie: „Ich fühlte mich im Recht. Das Geld ging ja nach Dubai und nicht zu ihm.“
Zum Jahreswechsel erreichen Frau Neumüller erneut unerfreuliche Nachrichten. El Zaid informiert sie über anfallende Lagerkosten in Höhe von 138.000 Dollar. Die Rechnung erhält sie als Foto bei WhatsApp. „Ich war ziemlich verzweifelt. Wie sollte ich das alles zahlen, auch wenn ich wusste, dass ich alles wieder bekam.“
4000 Dollar
36.000 Dollar
138.000 Dollar
Oliver drängt sie dazu, Kredite aufzunehmen. Es folgen zwei Kleinkredite in Höhe von jeweils 20.000 Euro.
Frau Neumüller ist zunehmend gestresst. Längst hat sie die Kontrolle über die Ausgaben verloren. Geld ist ihr aber auch nicht wichtig. Vielmehr möchte sie Oliver endlich sehen. Doch dass sich die beiden einmal gegenüberstehen, ist immer enger an das Ankommen der Pakete geknüpft. Erst dann kann er in Deutschland ein Juweliergeschäft gründen, erst dann sind alle Probleme gelöst.
Im März 2020 verkauft Frau Neumüller eine kleine Eigentumswohnung, deren Verwaltung ihr schon länger Mühe bereitet für 100.000 Euro. Sie zahlt weiter die Lagerkosten ab.
Fast jeden Abend telefonieren sie. Olivers Aussprache klingt in ihrer Erinnerung amerikanisch. Sie lachen viel. „Ich war nicht nur verliebt, sondern ich habe ihn wirklich geliebt – seine Stimme, sein Lachen.“
Verdacht auf Geldwäsche
Im August 2020 kommt sie plötzlich nicht mehr an ihr Geld. Die Bank teilt mit, dass ihre Konten gepfändet wurden. Die Staatsanwaltschaft Verden ermittelt wegen Verdacht auf Geldwäsche. „Ich war wie vor den Kopf gestoßen.“
Staatsanwaltschaft, Familie und Freunde – alle sagen ihr, dass Oliver nicht existiert. Frau Neumüller versteht, dass mit den Paketen etwas falsch gelaufen ist, aber sie weigert sich, ihren Geliebten darin verwickelt zu sehen. Dennoch stellt sie Strafanzeige wegen gewerbsmäßigen Betrug.
Ihr Sohn und ihre Tochter finden Unterstützung bei einer Selbsthilfegruppe. Ihre Mutter ist mittlerweile auch Mitglied und tauscht dort sich bis heute mit anderen Opfern aus. Zum ersten Mal fällt das Wort Scammer. Der Begriff ist hergeleitet vom Verb to scam, betrügen.
Andere Betroffene zeigen ihr den Trick mit der Google-Rückwärtssuche: Alle Bilder, auf denen der geliebte Mann ihr zulächelt, wurden vom Facebook-Profil eines kroatischen Politikers gestohlen. Als Frau Neumüller das Facebook-Profil sieht, von dem die Bilder stammen, begreift sie, dass es den Menschen, den sie liebt, gar nicht gibt: „Ich war zutiefst verletzt.“ Gleichwohl denkt sie: „Es kann doch nicht sein. Wenn man so lange miteinander kommuniziert, da muss doch irgendetwas hängen bleiben.“
Belogen und Betrogen
Frau Neumüller konfrontiert Oliver mit ihrer Entdeckung, wirft ihm vor, mit ihr gespielt zu haben.
Er: „I didn‘t play with you.“
Sie: „Who are you?“
Er: „I am Oliver the man who loves you.“
Sie: „Never, you don‘t love me. If you had loved me, you had never lie to me.“
Eine Recherche des WESER KURIERs zeigt: Die auf den Lieferscheinen angegebene Webseite des angeblichen Kurierdienstes, führt zu einer nicht existierenden Domain. Über ein Internetarchiv lässt sich die Seite wieder herstellen. Das Impressum ist diffus: Die E-Mail-Adresse ist eine lettische und die Telefonnummer eine amerikanische. Die Webseite ist seit November 2020 auf einer Aufklärungsseite für Fake-Internetseiten gelistet.
Auf dem Schreiben vom Zoll in Dubai tauchen das originale Logo, die richtige Adresse und der Name des Geschäftsführers auf, allerdings ist der falsch geschrieben. Noch ein entscheidender Rechtschreibfehler hat sich eingeschlichen: Dubia anstelle von Dubai. Frau Neumüller sind die Ungereimtheiten nicht aufgefallen.
September 2020. Frau Neumüller gibt ihren Schmuck ins Leihhaus und bezahlt die Kredite ab. Im Dezember verkauft sie ihr Haus, in dem sie von einem gemeinsamen Leben mit Oliver und seiner Tochter geträumt hat, und bezieht ihre heutige Wohnung. Die Ermittlungen gegen sie werden eingestellt.
Suche nach dem wahren Oliver
Einmal erzählt Oliver ihr, dass er 48 Jahre alt ist, wirklich Oliver heißt, nur nicht Andersen mit Nachnamen, geschieden ist, eine siebenjährige Tochter hat und Geld benötigt. Frau Neumüller möchte ein Foto. Bis heute hat sie keines erhalten. „Ich höre erst auf ihm zu schreiben, wenn ich weiß, wer er wirklich ist.“
Nach einem dreiviertel Jahr stellt die Staatsanwaltschaft schließlich die Ermittlungen gegen Erwerbs ein. Das sei keine Seltenheit. „Love Scamming ist keine Kriminalität, auch wenn die Schäden bei Einzelnen existenzbedrohend sind“, sagt Kopietz.
Konkrete Fallzahlen würden deswegen bis dato nicht gesondert erfasst werden. Love Scamming fällt unter sonstige weitere Betrugsdelikte. Frau Neumüller frustriert das Ende der Ermittlung. Sie schaltet sogar einen Privatdetektiv ein, aber auch der bringt ihr keine neuen Erkenntnisse über die wahre Identität von Oliver.
Der Winter vergeht. Mittlerweile ist Frau Neumüller gut mit anderen Betrugsopfern vernetzt. Mit Oliver hat sie unregelmäßig Kontakt. Im April 2021 schickt er ihr ein Gedicht, das frei übersetzt endet mit: „Am Anfang war es Geschäft, dann war es Liebe.“ Noch immer macht ihr Herz einen Sprung, wenn sie diese Zeilen liest. Auch der Unbekannte hält anscheinend an ihr fest, obwohl er kein Geld mehr bekommt.
Einen Monat später aktiviert Frau Neumüller die Dating-Funktion bei Facebook. Sie bekommt ein Match vorgeschlagen: Ein 62-jähriger Mann, der vor vielen Jahren aus dem Senegal nach Delmenhorst kam, möchte sie kennenlernen. „Ich dachte zuerst, er sei ein Scammer.“ Sie ist misstrauisch geworden. Versucht aber, zu vertrauen. Sie sehen sich nun regelmäßig. „Wir haben Interesse für einander. Das tut mir gut.“
Rétablir l'original