Herr Wörder, Sie sind 51 Jahre alt. Noch ein Jahrzehnt, dann könnten Sie den Stift fallen lassen und in Rente gehen. Ein gutes Gefühl? Oder macht Ihnen diese Vorstellung Angst?
Michael Wörder: Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich einfach so aufhöre. Angst habe ich keine. Aber es fühlt sich irgendwie noch falsch an. Als Freiberufler ist es schwierig, einen endgültigen Punkt hinter das Berufsleben zu setzen. Die Arbeit ist ein großer und wichtiger Teil meines Lebens. Ich kann mir aber vorstellen, etwas kürzer zu treten. Der Durchschnittsdeutsche geht mit Anfang 60 in den Ruhestand. Er hat sein Soll als Teil der Gesellschaft erfüllt, sein letzter Lebensabschnitt hat begonnen.
Was bedeutet das für einen Menschen?
Wörder: Vor allem, dass er sich neu orientieren muss. Für viele Menschen bedeutet der Beginn des Ruhestandes zumindest vorerst etwas Positives, weil lästige Verpflichtungen wegfallen. Das klingt, als würde sich das schnell ändern. Wörder: Das kann passieren, wenn soziale Strukturen fehlen und jemand plötzlich keine festen Aufgaben mehr hat. Da entsteht ein gefährliches Vakuum. An diesem Punkt muss man sich die Frage stellen, was man selbst vom Leben erwartet. Da, wo die Arbeit einen sehr hohen Stellenwert für die Psyche hat, wird es schwierig. Ich bin bei meinen älteren Patienten immer wieder überrascht, wie wichtig ihnen die Bestätigung durch den Job ist. Ich frage dann immer: Wem wollen Sie denn noch etwas beweisen?
Welche Folgen kann dieses Vakuum für die Psyche haben?
Wörder: Das fängt an bei Selbstzweifeln und dem Verlust des eigenen Selbstwertgefühls. Wer ausschließlich über die Arbeit Kontakt zu anderen Menschen pflegt, dem fehlt im Ruhestand plötzlich ein soziales Gerüst und die damit verbundene Bestätigung. Gelegentliche Kontakte zu alten Kollegen reichen nicht aus, um den Alltag zu strukturieren. Unsicherheiten und Ängste bahnen sich ihren Weg. "Das kann in einer Depression enden."
Also hängt Lebensqualität im Alter maßgeblich von dem Gefühl ab, gebraucht zu werden? Wörder: Ja, das wird in vielen Fällen so sein. Wenn Unterforderung, Vereinsamung und Antriebslosigkeit zusammenkommen, kann das krank machen und in einer Depression enden. Wie groß ist die Hemmschwelle Ihrer Patienten, diese Probleme direkt anzusprechen? Wörder: Viele sind sehr reflektiert und können ihre Ängste genau beschreiben. Einige haben Existenzängste, machen sich Sorgen wegen ihrer Finanzen oder körperlicher Gebrechen, die irgendwann zur Pflegebedürftigkeit führen könnten. Andere haben schlicht Angst vor dem Privatleben, das plötzlich viel Raum einnimmt. Ich erinnere mich an das Gespräch mit einem beruflich sehr engagierten Mann, der seinem Ruhestand eigentlich sehr positiv gegenüberstand. Aber er fragte mich: Wie soll ich denn jetzt den ganzen Tag mit meiner Frau gestalten? Er hatte panische Angst davor, dass das, was ihn Zuhause erwartet, nicht reicht, um einen erfüllten Berufsalltag auszugleichen.
Ist das ein generationstypisches Problem, oder ist die Beziehung einfach nicht in Ordnung, wenn man Angst davor hat, Zeit mit dem Partner zu verbringen?
Wörder: Natürlich sind nicht alle Beziehungen gleich gut. Das zeigt sich bei vielen erst, wenn sie wieder mehr Zeit miteinander verbringen müssen. Aber immerzu beieinander zu hocken, das hält ja wirklich niemand aus, und das ist für keine Beziehung förderlich. Es muss in jedem Alter eine Zeit des Miteinanders und eine Zeit für eigene Aktivitäten geben. „Du hast ja jetzt Zeit, du machst jetzt die Wäsche"
Aber viele Rentner wissen offenbar gar nicht, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollen. Was dann? Ein Hobby suchen? Hausmann oder -frau werden, die Enkel hüten?
Wörder: Grundsätzlich ja. Viele Rentner engagieren sich ehrenamtlich, um wieder das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden. Andere suchen sich kleine Nebenjobs oder tauschen sich in Gesprächskreisen über ihre Lebenssituation aus. Aber Eltern sollten nicht plötzlich anfangen, Kinder und Enkelkinder zu vereinnahmen, nur weil jetzt Zeit da ist. Dasselbe gilt für Ehepaare. Hier bekomme ich oft mit, dass der eine Partner über den anderen verfügen will.
Was sollten Partner denn stattdessen tun?
Wörder: Ganz viel Verständnis für den anderen aufbringen. Die Erfahrung zeigt, dass Sätze wie „du hast ja jetzt Zeit, du machst jetzt die Wäsche" immer zu Streitigkeiten führen. Solche Aussagen beinhalten nämlich, dass der eine dem anderen Langeweile unterstellt. Besser wäre ein Kompromiss. Ein Mann, der jahrzehntelang nicht die Waschmaschine bedient hat, muss nicht zwangsläufig von heute auf morgen Wäschebeauftragter werden. Vielleicht will er ja viel lieber - ich weiß nicht - in der Küche experimentieren, weil er ein Faible fürs Kochen hat.
Das könnte man dem Partner doch einfach mitteilen.
Wörder: Theoretisch schon. Aber dafür müssen viele erst lernen, einander zuzuhören und dem anderen sagen zu können, was man sich selbst wünscht. Das Ziel ist ein gemeinsamer Kompromiss, ein Plan für die kommende Zeit und was man gemeinsam daraus machen will.
Aber manchmal hat man vielleicht nicht dasselbe Ziel und kommt zu keiner gemeinsamen Lösung. Dann also die Trennung im Rentenalter?
Wörder: Das kommt vor. Aber oft reden Paare mehr darüber, als dass sie es wirklich tun. Eine Trennung in diesem Lebensabschnitt ist schon ein bisschen kamikazemäßig, weil ältere Menschen oft keine finanziellen und sozialen Ressourcen haben, um diese Veränderung aufzufangen. Viele bleiben deshalb einfach beieinander. Ob das die bessere Lösung ist, vermag ich nicht zu beurteilen.
Was raten Sie Paaren, die kurz vor der Pensionierung stehen und sich auf diese schwierige Lebensphase vorbereiten wollen?
Wörder: Man sollte sich rechtzeitig aus dem Berufsleben abkoppeln und einen privaten Lebensmittelpunkt schaffen. Das gilt für Menschen in Beziehungen ebenso wie für Singles. Was will ich erreichen, womit fühle ich mich wohl und wo bekomme ich auch im hohen Alter mein Feedback her? Darüber sollte ich mir klar sein, bevor ich in den Ruhestand gehe. Wenn jemand sich traut, sein Leben als Rentner neu zu gestalten, dann kann das eine wirklich gute Lebensphase werden.