Ethymolgisch geht der Begriff der Theorie auf das griechische Verb „theorein" zurück, was soviel wie „anschauen" und „beobachten" bedeutet. Theorie heißt, einen Erkenntnisgegenstand in einem bestimmten Winkel zu beleuchten. Damit die Theorie wirksam werden kann, müssen wir und darüber im Klaren werden, aus welchem Winkel wir den Gegenstand beleuchten wollen und welche blinden Flecken dadurch entstehen. Diese Anschauung schärfen wir durch die möglichst präzise Anwendung und Deklination (lat. „Abbiegung") von Begriffen und Begriffssytemen.
Und hier liegt die Krux begraben. Begriffe werden in der Management- und Beratungspraxis gerne „kolonialisiert". Es wird ihnen ein „Spin" gegebenem der ihnen nicht nur nur die ursprünglichen Bedeutung entzieht, sondern sie mit bestimmten Interessen auflädt. Sie werden vereinfacht, in den Fluss bestehender Argumentslinien verwoben, in ihrer Gestalt verändert, weichgekaut oder gar ins Gegenteil verkehrt. So wird aus dem Management von organisatorischem Wandel ganz schnell eine „Große Transformation" und aus einem unternehmensdemokratisch theoretisierten „agile" wachsen fast unbemerkt neue intraorganisatorische Macht- und Herrschaftsstrukturen. Eine solche Kolonialisierung kann nur gelingen, wenn die Begriffe einerseits dem wissenschaftlichen System, mit seinen Dialogen, Kritiken und Konflikten entzogen werden, sich aber andererseits genau auf dieses Wissenschaftssystem berufen wird. Das nicht nur, um Handeln und Entschieden vordergründig zu rationalisieren, sondern um sich damit eine Glocke der Immunität zum Schutz vor Zweifel und Kritik zu konstruieren. Da diese konstruierte Fassade aber immer gefährdet ist, das Schwert der vermeintlichen Theorie stumpf zu werden droht, springt man bedarfsgerecht auf die nächste „Theorie". Ein stetig auf- und abschwellender Zyklus von Managementmoden ist konsequenterweise die Folge.
Anderseits leben wir in einer Welt, die - nicht zuletzt durch zunehmendes Wissen - immer komplexer erscheint. Selbst von den Newton'schen Gravitationsgesetzen, die noch zu meiner Schulzeit als unumstößlich vermittelt wurden, wissen wir längst, dass sie allenfalls bei einer mesoskopischen Betrachtung der Welt gelten. Wenn selbst die Theorien im Bezug auf offensichtliche Naturgesetze auf tönernen Füßen stehen, wie soll es dann (universelle) Theorien für sozio-ökonomische Systeme, bei denen wir es mit höchst komplexen, strategischen beziehungsweise eigen-„sinn"-igen Akteuren zu tun haben? Die traditionelle Volkswirtschaftslehre flüchtet sich in „ ceteris paribus" Klauseln während es modernen Ökonomen mitunter reicht, dass es eine „gute Story" ist (erhellend die Konversation zwischen Tyler Cohen und Paul Krugmann). Aber warum sollte eine geteilte Fiktion schlecht sein, wenn sie einen wie auch immer gearteten Nutzen hat?
Management-Theorien und -Modelle stehen weniger im Sinne der Erkenntnis, als im Dienste der Kontrolle einer scheinbaren Rationalität, die sich selbst der Kontrolle entzieht.
„Die Landkarte ist eben nicht das Land, wie Alfred Korzybski (1958) sagt. Anderseits, und hier liegt das Paradoxon, ist die Landkarte dann doch sehr wohl das Land, wie der Philosoph Heinz von Foerster (Bröcker und von Foerster 2002, S. 300) betont: ‚The map is the territory because we don't have anything else but the map.' Wir brauchen Landkarten, um zu erkennen, wo wir uns befinden, sonst existiert für uns die Welt nicht." ( Becker 2018)
Da sind wir beim performativen Charakter solcher Modelle. Die Geschichte dahinter und die Geschichte, die damit erzählt werden soll, wirkt mitunter genau so, wie sie erzählt wird. Und dann sind wir wieder bei Managementmoden und Theorielosigkeit des Managements. Zum Beispiel sind SWOT Analysen mitunter der pure Unsinn. Meine Studenten kennen meine spitze Bemerkung: „SWOT ist böse„. Man denke nur daran, dass 2015 in wohl allen SWOT Analysen der Autoindustrie der Diesel als Chance und Stärke bezeichnet wurde. Andererseits sind es solche Modelle, die einen harmonisierte Sprachgebrauch, Wirkung (im Sinne von Performativität) und Anschlussfähkeit (Bruce Sterling's „Common Consensus Narrative", siehe auch Becker 2017 ) sicherstellen, so unsinnig sie im Einzelfall auch sein mögen.
Wie man sieht, gibt es viel mehr Fragen als Antworten. Und wenn Theorie und Praxis auch noch auseinander laufen, dann sollten wir neugierig werden. Im klassischen Sinne der angewandten Wissenschaften („Applied Science") interessieren uns genau diese Nichtpassungen zwischen Theorie und Praxis. Denn dort entsteht Forschungsbedarf.
Im Master-Studiengang „Sustainable Marketing & Leadership" (s0 der vorläufige Arbeitstitel) an der Hochschule Fresenius und insbesondere im Zusammenspiel zwischen unserem Lehrbeauftragten, dem Journalisten, Volkswirt und Blogger Gunnar Sohn. und mir hat das Experimentieren mit neuen analogen wie digitalen Formaten und das Wandern zwischen den Welten von Theorie und Praxis schon Tradition. Deshalb wird das Kolloquium „Über die Theorielosigkeit des Managements" noch die eine oder andere Überraschung bereithalten. Freuen wir uns darauf:
Digital und online:
im Web (Link zur Veranstaltung auf FacebookHochschule Fresenius, Wirtschaft und Medien, Business School Köln Im MediaPark4c, 50670 Köln ) sowie (Link zur Veranstaltung auf YouTube)Sozial und analog:
29. Mai 2019 - ab 10:00 Uhr
Becker, L. (2018): Nachhaltiges Business Development Management. Strategien für die Transformation. Wiesbaden ( SpringerGabler)
Becker, L. (2017): Transformation, Kultur und das Digitale: Transformative Wissenschaft als Grenzgang; in: Pfriem, R./Schneidewind, U./Barth, J/Graupe, S./Korbun, Th. (Hg.):Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung, Marburg ( Metropolis)
Müller, A. P./Becker, L. (eds.) (2013): Narrative & Innovation. New Ideas for Business Administration, Strategic Management and Entrepreneurship: Heidelberg ( VS research)