Ende des 19. Jahrhunderts war der Nord-Ostsee-Kanal das wichtigste Bauprojekt des deutschen Kaiserreichs. Die Abkürzung sollte die Möglichkeit schaffen, die Kriegsmarine schnell zwischen Nord- und Ostsee zu verlegen. Bis zu 9.000 Arbeiter gruben den Wasserweg zwischen Brunsbüttel an der Elbmündung und der Kieler Förde. Inklusive Schleusen, Brücken und Fähren kostete er 156 Millionen Reichsmark, nach heutiger Währung etwa 1,5 Milliarden Euro. Mit einer dreitägigen Feier eröffnete Kaiser Wilhelm II. den Kanal 1895 nach acht Jahren Bauzeit.
Der militärische Nutzen des Kanals blieb beschränkt, doch für den Welthandel spielt er heute eine umso größere Rolle. Mit circa 35.000 Passagen ist der Nord-Ostsee-Kanal (NOK) die meist befahrene künstliche Wasserstraße der Welt, weit vor dem Suez- oder dem Panama-Kanal. Besonders für den Hamburger Hafen ist der NOK lebenswichtig: Jeder dritte Container, der Hamburg erreicht, fährt anschließend mit kleineren "Feederschiffen" durch den Kanal in Richtung Osten.
Paradebeispiel für verrottende InfrastrukturTrotz seiner Bedeutung ist der NOK heute ein gutes Beispiel für Deutschlands verrottende Infrastruktur. Schon seit Jahrzehnten wächst der Sanierungsbedarf. Doch nach dem Fall der Mauer flossen die Mittel bevorzugt nach Ostdeutschland. Heute zeigt sich vor allem an der Schleuse Brunsbüttel, was passiert, wenn Instandhaltung und Grundsanierung immer weiter aufgeschoben werden.
Die großen Stahltore der vier Schleusenkammern schützen den Kanal vor Sturmfluten und der Tide der Unterelbe und sorgen für einen gleichbleibenden Pegel auf der Wasserstraße. Vor allem die beiden großen Kammern, die 1914 in Dienst gestellt wurden, machen Probleme. Sie benötigen dringend eine Grundsanierung. Von den Mauern bröckeln die Steine, Risse breiten sich aus. Die Antriebstechnik der Stahltore ist in großen Teilen noch im Originalzustand. Gleichzeitig wirken immer stärkere Kräfte auf Massivbau und Technik.
Taucher müssen Schäden ertastenObwohl sich die Zahl der Kanalpassagen kaum verändert hat, verdoppelte sich die transportierte Ladung seit dem Jahr 2000, denn die Schiffe werden immer größer. Ihre riesigen Schiffsschrauben drücken das Wasser mit gewaltigem Schub gegen Schleusentore und Massivbau. Die Bauwerke aus der Kaiserzeit leiden an chronischer Überlastung, immer öfter streikt die Technik und eines der Tore lässt sich dann nicht mehr öffnen oder schließen. Dann fällt die ganze Schleusenkammer aus und Taucher müssen am Grund der Kammer die Ursache ertasten. Sehen können sie nicht mal ihre eigene Hand vor Augen, denn der Schlick aus der Nordsee trübt die Sicht.
So geht das seit Jahren, doch am 7. März 2013 trat ein, was Kritiker schon lange befürchtet hatten: Beide großen Schleusenkammern in Brunsbüttel fielen gleichzeitig aus. Jeweils eines der riesigen Stahltore steckte fest. Schiffe mit einer Länge von über 125 Metern konnten nicht mehr in den Kanal und mussten warten oder den langen Umweg um das Skagerrak nehmen. Die Notreparatur dauerte acht Tage. Währenddessen gerieten die Transportketten der Welthandelsflotten aus dem Takt.
Maritimer SupergauDie Ursache für den maritimen Supergau findet sich unter den gewaltigen, 1400 Tonnen schweren, Stahltoren: Die laufen auf Unterwagen, deren Rollen auf Schienen gleiten. "Nach 100 Jahren Betrieb sind die Schienen, auf denen die Tore hin- und herrollen, marode", sagt Jürgen Schneider, Sachgebietsleiter für Bau und Unterhaltung im Wasser- und Schifffahrtsamt Brunsbüttel. "Im März sind die Schienen an einem Tor der Nordkammer weggebrochen und aus der Lage gerutscht. Da ist der Unterwagen entgleist und das Tor ließ sich nicht mehr bewegen".
Schon zuvor hatten die Monteure diverse Rollen an anderen Stahltoren ausgebaut und provisorisch durch Holzkufen ersetzt. Doch bei jeder Schleusung nutzte sich das Holz ab. So kam es am 7. März zeitgleich an den südlichen Kufen der beiden großen Kammern zu einem Tor-Stillstand: "Das Tor hatten wir bereits im Notbetrieb auf Holzkufen", sagt Schneider, "doch der Holzbelag war so weit abgenutzt, dass der Antrieb das nicht mehr bewegen konnte und die Stromaufnahme nach oben schnellte".
Neue Schienen im morschen BetonNun wollen die Techniker die alten Schienen durch neue ersetzen. Doch auch der Beton der Sohle unter den Schienen ist morsch. Erneuert werden kann er jedoch nur, wenn die Wassertemperaturen über fünf Grad Celsius liegen. Im Winter müssen die meisten Arbeiten daher ruhen. Nicht nur deshalb gehen die Reparaturen quälend langsam voran. Um die Schienen zu erneuern, müssen die Stahltore raus. Doch bei jeder Sturmflutwarnung müssen sie wieder rein, um den Kanal vor Hochwasser zu schützen. Jedes Mal eine Präzisionsarbeit in gigantischem Ausmaß: Die Schlepper, die den 46 mal 20 Meter großen Stahlkoloss in Position bringen, müssen extrem vorsichtig manövrieren. Das schwere Tor könnte die marode Schleusenwand bei einer Kollision stark beschädigen.
Auch die neuen Schienen werden die Situation nur vorübergehend entschärfen: Niemand weiß, wie lange sie halten, denn der gesamte Untergrund ist marode. In Brunsbüttel gibt es kaum eine Komponente, die nicht sanierungsbedürftig wäre. Das wird auch in den Antriebshäusern deutlich: Die gesamte Schleusenelektrik, die Mechanik, der Antrieb - alles müsste auf den neuesten Stand gebracht werden. Doch dieses dringende Projekt muss noch warten.
"Eine Grundinstandsetzung, möglichst bald""Das ist keine Grundinstandsetzung, was wir hier machen", sagt Jürgen Schneider, "im Augenblick sind wir wirklich mit Reparaturen, mit Flicken beschäftigt. Wir reparieren nur die schwerwiegendsten, gefährlichsten Schäden. Wir hoffen, dass wir damit die nächsten zehn Jahre weiter Schiffe hier durch die Schleusen bringen können, denn egal wie viel wir noch reparieren, wir brauchen eine Grundinstandsetzung, die muss kommen, möglichst bald." Die Grundinstandsetzung einer Schleusenkammer wird jedoch mehrere Jahre dauern. In dieser Zeit stünde nur noch eine große Kammer zur Verfügung - mit entsprechend hohem Risiko für Staus und sogar erneute Kanalsperrungen. "Wir brauchen möglichst immer zwei große Kammern für die Schifffahrt", sagt Schneider, "ansonsten baut sich auf der Elbe ganz schnell ein Stau auf und die Schiffe stehen hier Schlange und das ist auch nicht ungefährlich".
Wann kommt die neue Schleusenkammer?Bevor die lang ersehnte Instandsetzung beginnen kann, muss daher zunächst eine dritte Schleusenkammer her. Den ersten Spatenstich hatte der damalige Verkehrsminister Peter Ramsauer bereits im April 2012 gemacht. Doch seither ist nicht viel passiert, was dem Bayern viel Spott im Norden eingebracht hat. In diesem Jahr soll der Bau nun endlich starten. Und zwar auf der Schleuseninsel, mitten zwischen den großen Kammern im Norden und den kleinen im Süden. Das Vergabeverfahren für den Neubau der fünften Schleusenkammer läuft derzeit. Noch prüfen die Behörden die Angebote der Unternehmen. Die Kosten für die neue Kammer sollen sich auf 375 Mio. Euro belaufen. Frühestens 2021 könnte die neue Schleuse einsatzbereit sein. Danach erst kann die 450 Millionen Euro teure Grundsanierung der beiden alten beginnen.
Und Brunsbüttel ist nur eine von vielen Baustellen im und am Kanal. Auch die Schleusen in Kiel-Holtenau müssen saniert und die enge Oststrecke verbreitert werden, damit sich große Schiffe begegnen können. Der Kanal soll einen Meter ausgebaggert und seine uralten Brücken gestützt werden. Die Schifffahrt zwischen Nord- und Ostsee wird also noch sehr lange mit Behinderungen rechnen müssen.
W wie Wissen, 30.03.14Rétablir l'original