SPIEGEL ONLINE: Herr Kalfar, stimmt es, dass Sie lieber Schriftsteller werden wollten als Astronaut?
Kalfar: Ja. Die Welt der Bücher hat mich schon sehr früh fasziniert. Ich träumte davon, ein Schriftsteller zu sein und malte mir aus, wie toll es sein müsste, von Menschen auf der ganzen Welt gelesen zu werden. In meiner Vorstellung war das der coolste Job der Welt! Meine Eltern dachten, dass diese Träumerei sicher bald vorbei wäre - sie haben sich gründlich getäuscht.
SPIEGEL ONLINE: Welches waren Ihre ersten Lieblingsbücher?
Kalfar: Alle Werke, die neue Welten erkundeten und über das Normale hinausgingen. J. R. R. Tolkien, Terry Pratchett, Arthur C. Clarke und immer wieder Jules Verne. Bücher über die menschliche Neugier, die Fantasie und natürlich viel Science-Fiction.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Hauptfigur, der Astronaut Jakub Procházka, verbringt acht Monate im All. Fühlen Sie sich beim Schreiben ähnlich abgekoppelt von der Erde?
Kalfar: Es gibt diese Momente absoluter Isolation, und ich kenne durchaus das Gefühl, fast verrückt zu werden beim Alleinsein. Der Akt des Schreibens ist nicht so glamourös, wie das oft im Film dargestellt wird. Man muss lernen, mit sich selbst klarzukommen und es aushalten, täglich seine Hausaufgaben machen zu müssen.
SPIEGEL ONLINE: Man kann Ihren Roman als Parabel auf den Größenwahn von kleinen Nationen verstehen, da Tschechien darin eine eigene Weltraummission startet. Blicken Sie kritisch auf Ihre Heimat?
Kalfar: Dass ein Teil der tschechischen Bevölkerung nichts aus der Geschichte gelernt hat und sich extremer Nationalismus breit macht, treibt mich um und tut mir weh. Nicht wenige meiner Landsleute sind rassistisch und homophob - das ist höchst problematisch. Andererseits liebe ich mein Land und meine Leute, ich bin Tscheche durch und durch, auch wenn ich seit meinem 15. Lebensjahr in den USA lebe. Über den beschriebenen Größenwahn können übrigens auch die Tschechen lachen - in meiner Heimat kommt der Roman sehr gut an.
SPIEGEL ONLINE: Wie erklären Sie sich die nationalistische Einstellung Ihrer Landsleute?
Kalfar: Die Tschechische Republik hat eine sehr homogene Bevölkerung, der Ausländeranteil ist minimal. Daraus entstehen Ignoranz und Angst. Die Furcht, von Flüchtlingen überrannt zu werden, ist natürlich Nonsens, aber dagegen kommt man mit rationalen Argumenten nicht an. Unabhängigkeit spielt für viele Tschechen eine große Rolle, wohl auch weil unsere Kultur immer wieder unterdrückt wurde - von Österreich-Ungarn, den Nazis, der Sowjetunion. Meiner Meinung nach ist das aber kein Grund, sich von der EU abzugrenzen.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch tritt Frankreich aus der EU aus - eine Anspielung auf den Brexit?
Kalfar: Das war pure Ironie, denn ich schrieb das Buch lange vor dem Brexit.
SPIEGEL ONLINE: Inzwischen ist daraus in vielerlei Hinsicht ernst geworden. Wie beurteilen Sie die Zukunft der EU?
Kalfar: Wenn Deutschland und Frankreich durchhalten, werden auch die anderen Staaten wieder zur Ruhe kommen und sich auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen. Ich gebe die Hoffnung auf ein friedliches gemeinsames Europa inklusive Tschechien nicht auf!
SPIEGEL ONLINE: Sie wurden 1988 in Prag geboren. Erinnern Sie sich noch an die Revolution?
Kalfar: Ich weiß, dass ich bei den Demonstrationen im Kinderwagen mit dabei war. Meine Eltern schwenkten wie alle anderen ihre Schlüssel und Glöckchen, um für den Wandel Lärm zu machen. Und dazu hielt Václav Havel seine legendäre Rede - natürlich erinnere ich mich nicht genau daran, aber ich habe ein Gefühl für diese Zeit. Was ich noch genau weiß: Wie schwer es war, später Antworten auf meine Fragen nach der Zeit vor der Revolution zu bekommen. Meine Eltern und Großeltern taten zunächst so, als habe es schon immer die demokratische Tschechische Republik gegeben. Da musste ich erst nachhaken.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Roman taucht die Frage auf, was von der Revolution und ihren Idealen geblieben ist. Konsum sei das Einzige, was die Menschen heute noch interessiere, behauptet ein Protagonist. Was meinen Sie?
Kalfar: Auch mich verstört es, wenn ich sehe, wie viele Shoppingcenter allein in Prag entstanden sind und wie viele Menschen dort ihre Freizeit verbringen. Und das in einer Stadt mit einer so großartigen kulturellen Tradition! Es existiert aber auch weiterhin der traditionelle tschechische Wertemaßstab, das einfache Leben, die harte Arbeit, die Bedeutung der Familie. Zum Glück beobachte ich daneben eine kulturelle Gegenbewegung: neue Kunstprojekte, engagierte Filmemacher, kritisches Theater. Darauf baue ich.
SPIEGEL ONLINE: Fühlen Sie sich als Tscheche in den USA eigentlich manchmal wie in zwei Welten?
Kalfar: Ganz klar: ja. Ich habe die typische gebrochene Identität wie alle Immigranten. Ständig frage ich mich, ob ich Amerikaner genug bin oder wie viele tschechische Anteile ich in mir trage. Morgens lese ich online immer zuerst die Nachrichten aus Tschechien. Aber ich mag die positive Grundhaltung der Amerikaner, ihren Optimismus. Wie auch immer: Ich empfinde es als großes Glück und Privileg, in beiden Welten leben zu können.