- "Es ist ein guter Plan. Am frühen Sonntagabend, es ist der 31. August 1997, fahre ich den gestohlenen Fiat Fiorino aus der Tiefgarage in Regensdorf und parke drei Straßen weiter in der blauen Zone. Dann rufe ich Elias an, damit er mich abholt. Kurze Zeit später sitzen wir in der Küche seiner Wohnung. Wir essen vor dem Fernseher, das 'große Ding' von morgen ist kein Thema. Alles ist gesagt, jeder kennt seine Aufgabe. Die Chancen, bald Millionäre zu sein, stehen gut."
So beginnt "Silano - Der Jahrhundert-Postraub". Es ist die Chronik eines der spektakulärsten Fälle der Schweizer Kriminalgeschichte, erschienen im Sommer 2009, vom Verlag vermarktet als Enthüllungsbuch. Ein Täter packt aus. Auf dem Cover die Silhouette eines Mannes in schwarzem Anzug und mit Sonnenbrille. Man kann das Buch aber auch anders lesen. Dann ist es die Geschichte von Domenico Silano, den alle Mimmo nennen, der früh im Leben die Orientierung verliert; der Ziele hat, aber keinen Weg findet; dessen Träume größer sind als seine Möglichkeiten. Ein junger Mann, der vor sich selbst davonlaufen will und dabei alles nur noch schlimmer macht.
Zürich, Stadtteil Seebach, Schaffhausener Straße 453. Peripherie, einförmige Häuser, trübe Fassaden. Silano, markantes Gesicht, pechschwarzes Haar, ein sportlicher Typ, steht im "Lucky Play", das aussieht, wie Spielsalons überall aussehen. Automaten, Billardtisch, Sitzecke mit Fernseher, darüber Fußballtrikots, Vereinswimpel, Poster. Silano zeigt auf die Theke, hinter der er gearbeitet hat. Kaffee machen, Queues und Kreide ausgeben, Geld wechseln. Und dafür sorgen, dass es keine Scherereien gibt. Silano geht hinter die Theke, öffnet eine Schublade. "Hier war meine Neunmillimeter." Es ist später Nachmittag, noch keine Kundschaft. Bis ein Albaner durch die Türe schlendert. "Hi, Mimmo." Silano: "Alles gut?" Der Albaner nickt. Silano flüstert: "Es gibt gute Leute hier und schlechte, wie überall."
Das Lucky Play hieß einmal Il Pollicione. Im Il Pollicione fing alles an. Hier saß er in der Damentoilette mit Elias A. und den anderen, die, wie Silano es ausdrückt, "keiner Arbeit im bürgerlichen Sinne nachgingen". Hier besprachen sie den Überfall auf die Fraumünsterpost, Kappelergasse 1, mitten in Zürich. Damals war es in der Schweiz noch üblich, Rechnungen am Monatsende bar am Postschalter zu bezahlen. Ein Komplize, Marcello di S., der in der Fraumünsterpost arbeitete, hatte beobachtet, dass dort an jedem Monatsersten große Geldbeträge ankommen und anschließend zur Nationalbank transportiert werden. 20 Millionen Schweizer Franken und mehr. Marcello di S. hatte weiter beobachtet, dass die Angestellten die Sicherheitsvorschriften kaum beachteten, die Wachleute unbewaffnet waren. Wenig Risiko, Aussicht auf hohe Beute, eine einmalige Chance.
Er wächst auf in Venosa, 12 000 Einwohner, gelegen in der Region Basilikata im Süden Italiens. Basilikata ist eine der ärmsten Regionen des Landes. Als Silano 13 ist, geht sein Vater nach Zürich, um dort als Maurer zu arbeiten, die Mutter folgt ihm wenig später. Die Kinder von Gastarbeitern erhalten keine Aufenthaltsgenehmigung. Silano bleibt bei den Großeltern in Italien. Mit 14 beginnt er eine Ausbildung als Bauzeichner, deretwegen er mit 16 nach Turin zieht, wo er bei seinem älteren Bruder wohnt. Der Bruder studiert, er sieht ihn, wenn überhaupt, nur abends. Silano ist 17, als sein Vater die Aufenthaltsbewilligung B erhält und der Sohn in die Schweiz darf. Silano erinnert sich: "Mein Vater kam mich mit dem Auto abholen. Es war das erste Mal, dass ich Italien verließ. Ich hatte das Gefühl, dieser Schritt würde große Veränderungen in meinem Leben nach sich ziehen."
Die Eltern wohnen in Regensdorf, im Norden Zürichs. Silano spricht kein Deutsch, er vermisst seine Freunde, die kleinen Rituale des südeuropäischen Alltags, er vermisst die Sonne. In der italienischsprachigen Schule fühlt er sich unterfordert, eine Lehre bricht er ab. Er wird Hilfsarbeiter und Handlanger auf dem Bau. Er hat Angst vor Langeweile, fährt Autos, die er sich nicht leisten kann, zockt mit Geld, das er sich leiht. Die Abende verbringt er meist in Seebach im Il Pollicione, das überwiegend von Italienern, Arabern und Libanesen frequentiert wird.
Der Laden gehört Giuseppe V., der Silano gut leiden kann. Giuseppe stellt Silano ein, macht ihn mit Elias A. bekannt, der einen Fahrer sucht und ihn fragt: "Mimmo, bist du dabei?" Silano ist 24, er hat 60 000 Franken Schulden. Er hat eine Freundin, Lina. Er will sie heiraten, groß, pompös, Flitterwochen unter Palmen.
Montag, 1. September 1997. Um 10.37 Uhr fährt Silano mit einem weißen Fiat Fiorino, amtliches Kennzeichen P 20812, beklebt mit den Symbolen der Schweizer Post- und Telefongesellschaft (PTT), vor die Sicherheitsschleuse der Fraumünsterpost. Auf dem Beifahrersitz Elias A., unter einer Decke im Laderaum verstecken sich Zoran V., Hassan el B. und Dieter M. Zum Wachdienst sagt Silano, sie kämen wegen einer dringenden Reparatur der Telefonzentrale. So gelangen sie auf den Innenhof, wo gerade sieben Geldkisten umgeladen werden. Die Täter springen aus dem Lieferwagen, ziehen Waffen, darunter eine Kalaschnikow. Sie werfen fünf Kisten in den Laderaum, steigen ein, öffnen die Pforte der Sicherheitsschleuse mit einem von Marcello di S. nachgefertigten Schlüssel. Nach drei Minuten ist alles vorbei. In den fünf Kisten befinden sich 53,1 Millionen Schweizer Franken in gebrauchten, nicht registrierten Scheinen.
Es ist der bis dahin größte Postraub aller Zeiten. Und er ist eine Blamage für die Schweizer Post, die in den Jahren zuvor wiederholt überfallen worden war und dennoch an der Aufwertung ihres Sicherheitssystems gespart hatte. Zwar sind im Innenhof der Fraumünsterpost Videokameras installiert, doch sie sind schlecht postiert, liefern Bilder von minderer Qualität. Der Raub ist auch eine Blamage für die Zürcher Polizei, die zunächst nach dem falschen Fahrzeug fahndet, einem Fiat Ducato, einem größeren Modell. Der "Sonntagsblick" kritisiert die Informationspolitik des Bezirksstaatsanwaltes als "jenseits von Gut und Böse". Es ist vor allem aber ein PR-Desaster für den Finanzstandort Zürich, dem vermeintlich sichersten Hort für Geld, Gold und Wertsachen aller Art. Ein Coup dieser Dimension? Unweit des Paradeplatzes, an dem die Elite der europäischen Banken residiert? Wie konnte das passieren?
"Als ich das Manuskript auf dem Tisch hatte", sagt André Gstettenhofer, Silanos Verleger, "wusste ich sofort: Das muss ich haben." Gstettenhofer erinnerte sich an die Schlagzeilen und Fernsehberichte, das Drama um die Suche nach den Tätern, ihre Verhaftung, ihre Verurteilung. Mehr als zwei Jahre beschäftigte der Fall die Medien. Inzwischen gibt es fünf Drehbücher über den Jahr-hundert-Postraub. Gstettenhofer: "Es war ein historisches Ereignis, das sich im kollektiven Gedächtnis der Schweiz eingenistet hat." Was auch daran liegt, dass etwa 27 Millionen Franken von der Beute bis heute verschwunden sind. Es heißt, dass ein Teil davon in den Libanon verschoben wurde, auch die Mafia soll sich bedient haben. Im September 1998 wurden in Brescia zwei Männer ermordet aufgefunden, bei denen die Adressen von Marcello di S. und des Giuseppe V. gefunden wurden; sie sollten offenbar einen Teil der Beute, 16 Millionen Franken, in Sicherheit bringen.
Amateure auf der FluchtGroßer Krimi, faszinierender Stoff. Das allein erklärt, warum das Buch "Silano - Der Jahrhundert-Postraub", das Silano zusammen mit Patrik Maillard geschrieben hat, in der Schweiz ein Bestseller wurde. Doch "da ist noch etwas", sagt Gstettenhofer. "Nicht jeder wird Posträuber, doch jeder kann sich in einen hineindenken." Anders formuliert: Wollen wir nicht alle reich sein? Gerade in einer Stadt, die quasi Synonym für Wohlstand und Luxus ist und nicht nur in der schicken Bahnhofsstraße Begehrlichkeiten weckt? Dazu passt, was die Journalistin Andrea Pfalzgraf, die für das Schweizer Fernsehen diverse Dokumentationen über den Coup produziert hat, erzählt. Es war während des Prozesses gegen die Täter. Die Gerichtszeichnerin hatte einen der Angeklagten mit einem Polizisten verwechselt. Pfalzgraf: "Keinem sah man an, was er war." Ihr nächster Gedanke: "Liegt es nicht an den Umständen, auf welcher Seite wir landen? Es ist auf jeden Fall wie bei 'Wer wird Millionär?' - man schaut zu und denkt: 'Was würde ich machen?'"
Die Zürcher Posträuber machen alles falsch. Silano und Elias A. fallen auf, als sie vor dem Überfall neben dem Tatort Espresso trinken; Zoran V. schläft unter der Wolldecke, als es losgeht; beim Schließen der Hecktüren ihres Lieferwagens verlieren sie einen Plastiksack mit Fotos und Kabelbindern, auf denen sich Fingerabdrücke befinden. Den gestohlenen Fiat Fiorino fackeln sie neben einem Feuerwehrhaus ab, der Brand wird binnen Minuten gelöscht, ein Geschenk für die Spurensicherung. Sie haben weder einen Plan für die Flucht noch einen für das Leben danach. Silano trägt nach dem Überfall seinen Anteil von vier Millionen Franken in einem schwarzen Müllsack zu einer Bushaltestelle, wo ihn ein Freund erst eine halbe Stunde später abholt. Elias A. bucht im Mailänder Hotel Duca Zimmer für 1000 Franken pro Nacht und zahlt bar aus der Hosentasche. Zoran V. und Dieter M. kaufen in Spanien teure Autos und eine Villa mit acht Zimmern, wollen Millionenbeträge bei einer Bank einzahlen. Und es gibt zu viele Komplizen und Mitwisser. Wenige Wochen nach dem Überfall sind alle verhaftet - außer einem.
Im Buch erzählt Silano, wie er entkommt. Wie er zu einem Freund namens Luigi geht. Wie sie seinen Anteil von vier Millionen Franken im Tessin in einem Schließfach deponieren. Wie er sich in Norditalien bei einer Freundin Luigis versteckt, mit gefälschten Papieren nach Venezuela reist, dort beim Cousin seines Patenonkels unterkommt. Wie der ihn auf eine Geschäftsreise nach Miami mitnimmt, wo er später ein Apartment in Coconut Grove mietet.
Aus Domenico Silano wird Alberto Sipone, geboren in Mailand, Hotelierssohn, der in den USA Englisch lernen will. In Venezuela schöpft niemand Verdacht. In Miami lieben alle den charmanten, anständigen Alberto, der tagsüber in einem Billardsalon arbeitet, nachts in hippen Clubs tanzt und zum feurigen Liebhaber wird. Der alles richtig macht. Bis er seine geliebte Lina in der Schweiz anruft und so freiwillig sein Versteck verrät. Am Morgen des 4. Dezember 1998 kreisen Hubschrauber über der Apartmentanlage, in der er wohnt. Spezialkommando. Handschellen. Aus der Traum. Die "Neue Zürcher Zeitung" titelt: "Die Liebe brachte ihn zur Strecke."
Der Prozess gegen Silano und seine Komplizen beginnt zehn Monate später. Die Staatsanwaltschaft fordert Freiheitsstrafen zwischen sechs und acht Jahren. Letztendlich kommt Silano mit fünfeinhalb Jahren davon, von denen er nur dreieinhalb absitzt. Immer noch zu viel, wie er moniert, da doch ein Mithäftling für den Mord an seiner Frau bloß fünfeinhalb Jahre ins Gefängnis musste. Das Gericht begründet das relativ hohe Strafmaß mit der Weigerung der Täter, Auskunft über den Verbleib der verschwundenen 27 Millionen Franken zu geben. Das gilt auch für Silano, der erst in seinem Buch eine Erklärung parat hat: Als er erfahren habe, dass Luigi mit dem Beutegeld riskante Spekulationen betreibe, habe er ein Treffen in Porto Ronco am Lago Maggiore gefordert. Luigi sei nicht erschienen. Es sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als nach Miami zurückzufliegen. Seither sei Luigi unauffindbar, vermutlich sei er tot.
Winterthur, Hermann-Götz-Straße 24, erster Stock. Termin bei Rolf Jäger, heute leitender Staatsanwalt, damals Bezirksstaatsanwalt und zuständig für die Ermittlungen und die Anklage im Prozess. Jäger sagt, er kenne das Buch, er habe es gelesen. Er könnte jetzt sagen, er glaube Silano kein Wort, aber er tut es nicht. Jäger sagt: "Das ist seine Optik, seine Darstellung, für mich zählt die materielle Wahrheit." Er verstehe durchaus, dass es nach solchen Fällen, verstärkt durch den Wirbel um Silanos Buch, eine "gesellschaftliche Aufarbeitung" gebe, doch "der Fall ist geklärt. Die Täter wurden zu angemessenen Strafen verurteilt. Es war ein guter Abschluss eines sehr komplexen und aufwendigen Verfahrens." Jäger sagt, er könne nur wiederholen, was er schon in seinem Schlussplädoyer festgestellt habe: "Crime doesn't pay." Verbrechen lohnt sich nicht. "Auch wenn es noch so lange dauert: Irgendwann wird jeder erwischt, erst recht heute, die Welt ist dafür zu klein in Zeiten des Web 2.0."
Was soll er auch sagen, der Dr. jur. Jäger, Hauptmann der Schweizer Milizarmee? Ein Mann mit unauffälligem Brillengestell, das Haar korrekt gescheitelt, die Krawatte akkurat gebunden. Sein graues Jackett auf einem Kleiderbügel vor grauen Aktenschränken. Für jemanden wie Jäger zählen Recht und Ordnung. Genau, korrekt, zuverlässig. So ist er. So arbeitet er. Man glaubt zu spüren, dass er über die Interview-Anfrage nicht begeistert war. Weil er findet, Verbrecher verdienen keine Aufmerksamkeit? Jäger: "Ich darf Ihnen meine Meinung als Staatsanwalt geben, meine private Meinung behalte ich für mich." Nur so viel, egal, wie Silano die Sache darstelle: "Selbst wenn niemand körperlich zu Schaden kam bei dem Überfall - wer um sein Leben fürchtet, wird auch zum Opfer." Wo wir endlich bei der Moral sind: " Jeder Täter hat eine Familie, die seine Taten in der Regel nicht billigt."
Alles eine Frage der Perspektive. Der Sprecher der Schweizer Post sagt: "Wir glauben nicht, dass der damalige Fall das Image der Post heute noch belastet." Die Zürcher Polizei sagt, über Ermittlungen zum Verbleib des verschwundenen Geldes könne keine Auskunft erteilt werden. Die Schweizerische Bankvereinigung antwortet auf die Frage nach dem Ima-ge-Schaden für den Finanzstandort Zürich: "Unserer Meinung nach wären die geeigneten Kommentare in den akademischen Welten zu suchen." Was Kurt Imhof, Professor für Publizistik und Soziologie an der Universität Zürich, so kommentiert: "In der Schweiz wird viel vergessen, was mit Geld im Zusammenhang steht, oder: Zur Verschwiegenheit des Finanzplatzes gehört das Vergessen." Nur dass es nicht ganz so einfach sei, wie der Verleger Gstettenhofer sagt: "Wie vergisst man 27 Millionen Schweizer Franken?"
Der Tag mit Silano beginnt kurz nach Mittag in einem italienischen Restaurant im Zürcher Rotlichtviertel. Den Termin am Vortag hatte er platzen lassen, es kam zu einem aufgeregten Telefonat mit Gstettenhofer, in dem es offenbar um Geld ging. Nun also doch. Nachtblauer Nadelstreifenanzug, Seidenkrawatte, Schuhe mit silbernen Schnallen. Er grüßt, setzt sich, schreibt für den Kellner eine Widmung in sein Buch. Con Rispetto. Eine nette Geste. Während der Suppe beklagt er seine Kindheit. Hätte er nicht bessere Chancen gehabt, wenn er mit 13, 14 nach Zürich gekommen wäre? Beim Risotto moniert er seine Situation nach der Haftentlassung. Laut Silano hat er 150 000 Schweizer Franken Schulden durch Bußgelder und Gerichtskosten. Wie solle er so viel Geld beschaffen? "Wer gibt einem wie mir noch Arbeit?" Beim Kaffee erklärt er, wie ihn Lina während der Untersuchungshaft verließ und wie seine Ehe nach der Haftentlassung scheiterte. "Ich musste für die Probleme meiner Vergangenheit bezahlen." Ein Jammer, wo er doch inzwischen einen sechsjährigen Sohn habe, der einmal "stolz sein soll auf seinen Papi".
Sein Deutsch ist holprig, sein Auftritt wirkt gekünstelt, seine Rede einstudiert. Doch er ist charmant, höflich, ein begabter Erzähler. Gstettenhofer hatte nicht umsonst gewarnt: "Silano kann einen in fünf Minuten um den Finger wickeln." Nein, das Geld aus dem Postraub sei weg: "Glauben Sie, ich würde mit Ihnen hier sitzen, wenn ich vier Millionen Franken hätte?" Nein, er habe nichts mit einem Leasing-Betrug in Höhe von 265 000 Schweizer Franken einer Beratungsfirma zu tun gehabt, deren Geschäftsführer er war: "Es ist leicht, etwas zu behaupten über jemanden, der sich nicht wehren kann."
Wovon lebt er überhaupt? "Eltern, Geschwister, Freunde, ich habe mir Geld geliehen." Aus dem Täter wird ein Opfer. Er sagt, 1242 Tage Gefängnis seien genug: "Ich werde mich nicht mehr biegen lassen." Er sagt: "Domenico Silano geht nur vor Gott auf die Knie." Man glaubte ihm gern. Doch warum gibt er die Identität von Luigi nicht preis? Er sagt: "Egal, was ich erzähle, man glaubt mir ohnehin nicht mehr."
Hinten im Buch, unter "Mein besonderer Dank", gibt es einen Namen: Nino Culosi ("Für den großzügigen Support"). Und hätte man sich nicht mit Patrik Maillard getroffen, wäre er einem entgangen. Es ist auch nicht so, dass Maillard freiwillig über Culosi spricht. Er muss. Maillard, ein sehr freundlicher, nachdenklicher Mann, der mit dem Fahrrad kommt, arbeitet als Koch und freiberuflicher Journalist. Auch wenn er mal Buchhändler gelernt und mit 41 eine Ausbildung in angewandter Linguistik begonnen hat, stellt sich die Frage: Wie kommt so jemand dazu, solch ein Buch zu schreiben? Einfach: Maillards Sohn spielt in einem Quartiersverein Fußball. Culosis Sohn spielt im selben Verein. Culosi erfährt, dass Maillard ab und an für linke Szeneblätter Artikel schreibt. Culosi erzählt, er habe einen Freund, der gern ein Buch schreiben ließe. Maillard sagt, dafür müsse er sechs Monate unbezahlten Urlaub nehmen. Culosi sagt, er würde das finanzieren. "Dann habe ich Silano getroffen", sagt Maillard, "die Chemie stimmte. So haben wir angefangen."
Wer ist dieser Culosi? Welches Interesse kann er haben, Silanos Buch zu finanzieren? Gstettenhofer sagt, er kenne ihn nicht. Das Manuskript habe ein Rechtsanwalt namens Giovanni Gaggini eingeschickt. Jäger notiert sich den Namen auf Nachfrage, so als habe er ihn nie zuvor gehört. Interessant. Waren beide nicht bei der Buchpräsentation? Hatten sie nicht nachgefragt, wem der schwarze Maserati gehört, in dem Silano vorgefahren wurde? Kann es sein, dass ihnen der Mann, der diesen Abend erst möglich gemacht hat, nicht aufgefallen ist? Was sagt Silano dazu? "Nino ist ein Freund. Er wollte mir helfen, meine Geschichte zu erzählen." Woher sie sich kennen? Silano: "Ach, lassen wir das, dann müsste ich mich an eine traurige Familiengeschichte erinnern." Kann man Culosi treffen? "Eigentlich will er keine Medien."
Nach dem Mittagessen. Silano hatte angekündigt, er wolle mit dem Reporter eine Tour machen. Fraumünsterpost. Gerichtsgebäude. Strafanstalt Pöschwies. Silano ruft ein Taxi, steigt ein und sagt: "Zum Flughafen Kloten, bitte, Fracht-Terminal." 20 Minuten später, hinter einem klotzigen Bürogebäude steigen Jets in den mausgrauen Himmel. Operation Center 4. In den Aufzug, den Gang runter, zu den Büros der Firma Express-24.ch. Großes Hallo. Ah, Mimmo! Come stai? Küsschen hier, Küsschen da. Silano herzt eine Frau mittleren Alters. "Darf ich vorstellen: Frau Culosi." Silano deutet auf einen Schreibtisch. "Hier haben wir gesessen und gearbeitet, Patrik und ich." Silano fragt: "Ist Nino da?" Die Tür zu seinem Büro ist geschlossen. Nino hat Besuch. Als der Besuch geht, fragt Silano: "Können wir rein?" Die Tür bleibt geschlossen. Nino telefoniert. Frau Culosi sagt zu Silano, Nino wolle nicht, dass über ihn geschrieben werde. Wenn die Tür sich jetzt öffne, dann habe das Gespräch offiziell nie stattgefunden.
Weit gereist, aber nicht weit gekommenOb der Jahrhundertraub ein weiteres Drehbuch braucht, ist fraglich. Aber man könnte sich dafür eine Sequenz ausdenken.
Flughafen Zürich, Fracht-Terminal. Ein Büro. Hinter einem Schreibtisch sitzt ein kleiner dunkelhaariger Mann. Um die 40, rosafarbenes Polohemd, schwarze Lederjacke. Der Posträuber Domenico Silano (Mimmo) und ein Reporter treten ein.
Posträuber: "Ich habe jemanden mitgebracht, der dich kennenlernen will."
Kleiner Mann lächelt, bittet den Reporter jovial, Platz zu nehmen. Der Posträuber muss stehen.
Reporter: "Warum haben Sie das gemacht mit dem Buch?" Kleiner Mann: "Für mich war es wichtig, dass Mimmo den Menschen seine Geschichte erzählt. Er war jung, naiv, er wollte schnell reich werden, er hat einen Fehler gemacht. Eigentlich ist er ein anständiger Kerl."
Posträuber: "Ich konnte - wie sagt man? - ein bisschen mein Gesicht waschen, auch wenn es ein schmerzhafter Prozess war, alles noch einmal zu erleben."
Reporter zum kleinen Mann: "Woher kennen Sie Mimmo?" Hinter dem Fenster rollen die Flugzeuge zur Startbahn, rot blinkende Positionslichter.
Kleiner Mann: "Ach, lassen wir das, es würde mich nur an eine traurige Familiengeschichte erinnern."
Reporter: "Sie haben einen Frachtservice und Kurierdienst. Was genau machen Sie?"
Kleiner Mann lächelt wieder: "Wir liefern innerhalb von 24 Stunden, an fast jeden Ort in Europa. Schlüssel, Frachtpapiere, Wertsachen. Alles, was Sie wollen, wohin Sie wollen."
Schnitt, Rückblende: Man sieht den jungen Posträuber und den kleinen Mann. Der Posträuber gibt dem Mann an einer Bushaltestelle einen prall gefüllten schwarzen Müllsack.
Der Tag mit Silano geht zu Ende, wo das große Ding begann.
Noch mal ein Taxi. Vom Flughafen nach Seebach, Schaffhausener Straße 453, der Spielsalon, der einmal Il Pollicione hieß. Silano erzählt während der Fahrt, erzählt und erzählt. Wie toll Zürich doch sei. Die Krankenhäuser. Die Schulen. Die Sportanlagen. Die Kinos. Er lässt nichts aus. "Alles so sauber, keine Stadt ist so perfekt." Und: "Selten passieren schlechte Sachen in Zürich." Er sagt: "Ich habe viel gesehen." Und: "Ich bin weit gereist." Schlussfolgerung: "Nicht umsonst wollte ich immer wieder hierher zurück."
Dann hält er inne, denkt nach. Nicht über den Sinn seiner Rede. Er sucht nach einer Figur, die ihr ein Gesicht gibt - und kommt auf Roger Federer. Was Zürich als Stadt, ist Federer als Tennisspieler. So perfekt. Wie Federer wäre er gern. Einmal, so Silano, hätten sie beide in derselben Zeitung gestanden. "Miami Herald", sagt Silano, "erste Seite: Er hatte ein großes Match gewonnen, über meinem Artikel stand ,Golden Boy arrested in Coconut Grove.'"
Inzwischen regnet es. Silano steht vor dem Lucky Play und raucht eine Zigarette. Auf dem Nadelstreif perlen die Tropfen, die Schnallenschuhe tapsen zwischen Pfützen. Der Belag des Gehsteigs wird erneuert, eine Walze quietscht dampfend vorbei. Die Trambahn Nummer 14 rattert Richtung Triemli. Er hat viel gesehen. Er ist weit gereist. Weit gekommen ist er nicht. Als Teenager kam er in Regensdorf an. Als junger Mann saß er in der Nähe von Regensdorf ein, wo sich die Strafanstalt Pöschwies befindet. Er ist 37, und die Geschichte seines Lebens führt immer noch zum gleichen Spielsalon, zum selben Milieu. "Domenico Silano jetzt nicht mehr Posträuber", sagt er trotzig. "Domenico Silano jetzt Bestseller-Autor." Was er übersieht: dass beides zusammengehört.
Er ist nicht bekannt geworden durch Talent, Disziplin, harte Arbeit und Bescheidenheit wie Federer. Er ist nicht berühmt geworden auf eine Art, die Respekt, Ansehen und Bewunderung erzeugt. Die Journalistin Pfalzgraf sagt: "Silano wollte das schlau machen, sich als der Geläuterte darstellen, aber ich musste über die Geschichte, die er sich zurechtgelegt hat, schon sehr lachen. Am Ende geht es einem mit diesen Jungs immer gleich. Man denkt zuerst: 'Das ist wirklich dumm gelaufen, das ist eigentlich kein Schlechter.' Doch nach einer Weile denkt man: 'Die nehmen uns doch nur auf den Arm und warten bloß, bis sie wieder an ihr Geld können.'"
Das ist die wahre Strafe. Die vier Millionen Schweizer Franken werden Domenico Silano, den alle Mimmo nennen, immer begleiten, egal, wo sie geblieben sind. -