© AFP Rasch gelingt es Pinocchio (Chloe Broit), sich eine hölzerne Lügen-Nase zu ersingen - er muss doch Mensch werden am Ende, hilft alles nichts.
Eine Taube flattert quer über den Innenhof. Die Mauern halten zwar noch die Hitze des zu Ende gegangenen Tages, aber erfahrene Premierenbesucher haben schon rote Decken zu ihren Holzstühlen mit auf die Tribüne genommen. Der erste Stern ist zu sehen, als Dirigent Eivind Gullberg Jensen den Einsatz gibt und „The Rake's Progress" von Igor Strawinsky beginnt, mit federnden Blechfanfaren des Orchestre de Paris.
Drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war im Innenhof des säkularisierten erzbischöflichen Palais in Aix erstmals mit Wolfgang Amadeus Mozarts „Così fan tutte" eine Oper gespielt worden. Jetzt findet das internationale Opernfestival bereits zum neunundsechzigsten Male statt. 2018 wird Bernard Foccroulle die Festivalleitung dann an seinen Nachfolger Pierre Audi abgeben. In den elf Jahren als Intendant hat er das Festival mit kluger Programmgestaltung und ambitionierten Regie-Handschriften klar positioniert. Es ist nicht erstarrt in Tradition oder Glamour, sondern bleibt in Bewegung, nicht zuletzt durch ein auffällig junges, neugieriges Publikum. Eine Leichtigkeit liegt über den ersten Festivaltagen (es läuft noch bis zum 22. des Monats) - daran können auch die strengen Taschen- und Personenkontrollen am Eingang der Spielstätten nichts ändern.
„Das Menschsein" erkämpftFünf szenische Premieren waren in der ersten Woche zu erleben, darunter eine Neuinszenierung des „Don Giovanni", in der Regie von Jean-François Sivadier sowie Francesco Cavallis Oper „Erismena" aus dem Jahr 1655, eine echte Rarität, inszeniert von Jean Bellorini. Und bei der Festivaleröffnung im Grand Théâtre de Provence mischten sich helle Stimmen in das Gemurmel des Premierenpublikums: Die Uraufführung einer Kinderoper als Auftaktveranstaltung - auch dieses Auftragswerk ist ein besonderer Akzent. Der Komponist Philippe Boesmans und sein Librettist Joël Pommerat haben sich Carlo Collodis „Pinocchio" vorgenommen und die Abenteuer der Holzpuppe als eine Art Entwicklungsroman erzählt. Dass die poetisch in Szene gesetzte Geschichte für Kinder funktioniert, merkt man spätestens, als der Theaterdirektor (mit melodiös fließendem Bariton: Stéphane Degout) das Publikum kurz vor Ende des erstes Aktes fragt, ob denn Pinocchio die Schule besuchen werde - und viele Kinder mit einem überzeugten „Oui!" antworten.
Mit einfachen Mitteln schaffen Regisseur Joël Pommerat und Éric Soyer (Ausstattung und Licht) zauberhaftes Musiktheater. Die gute Fee (Marie-Eve Munger) steht auf Stelzen, in ihrem langen, weißen Kleid, mit ihren gleißenden Koloraturen wirkt sie wie nicht von dieser Welt. Für die Szenenwechsel auf offener Bühne wird das Publikum auch mal geblendet. Warum aber die glockenhell singende Chloé Briot als Pinocchio mit ihrem zum Totenkopf geschminkten Gesicht und der Kapuzenjacke wie ein pubertierender Gothic-Freak (Kostüme: Isabelle Deffin) aussehen muss, bleibt trotz der insgesamt eher düsteren Zeichnung der Geschichte rätselhaft.
© AFP Marie-Eve Munger brilliert als hochgewachsene „Blaue Fee".
Zusammengehalten werden die dreiundzwanzig Szenen durch die Musik, für die sich Boesmans wie gewohnt und ohne jede Scheu in der Musikgeschichte bedient. In den Orchester-Zwischenspielen klingt das mitunter sehr nach Strawinskys „Geschichte vom Soldaten" - wie überhaupt auch die in „Pinocchio" verfolgte Idee des Wandertheaters und die klein besetzte Bühnenmusik an Strawinskys frühes Musiktheater erinnern. Ansonsten ist die Komposition, die beim durchsichtig spielenden Klangforum Wien unter Emilio Pomarico gut aufgehoben ist, immer tonal verankert und melodiebetont. Gelegentlich streifen die Harfenarpeggi und Streicherterzen gar die Kitschgrenze. Und am Ende beginnt Pinocchio als ein ordentlich frisierter Junge ein neues Leben: Er hat sich „das Menschsein" erkämpft.
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