Mit dem Wiederaufbau einer Synagoge positioniert sich Hamburg als Zentrum jüdischen Lebens. Zugleich häufen sich die Vorfälle. Hat die Stadt ein Antisemitismus-Problem?
Wenn Ben-Raffael Goihman durch Hamburg geht, ist er hellwach und immer auf der Hut. Er weiß, es kann überall passieren: in der U-Bahn, vor der Haustür, beim Sport. Am 13. Juli 2018 fuhr er gerade mit dem Fahrrad an der Außenalster entlang. Einen Freund besuchen. So erzählt es der heute 53-jährige Fitnesstrainer später. An der Kreuzung Mundsburger Damm und Schwanenwik habe er eine Ampel überqueren wollen, als ein Mann aus dem offenen Fahrerfenster eines Kleintransporters gerufen habe: "Scheiß Jude!" Goihman habe sofort gewusst, dass er gemeint war. Er trug Kippa. Also hielt er an und schob sein Fahrrad hinüber zum Wagen. "Was ist dein Problem?", habe er den Fahrer gefragt. "Ihr seid Mörder, euer Volk", habe der Mann geantwortet.
Ein Passant sei herbeigeeilt und habe angeboten, als Zeuge auszusagen. Goihman fotografierte das Nummernschild. Der Fahrer habe nur gelacht. Es sei nicht das erste Mal, sagt Goihman, immer wieder sei er in Hamburg beleidigt, beschimpft und angegriffen worden, wenn er Kippa trug. Schon als er ein kleiner Junge war und in Nienstedten zur Schule ging, hefteten ihm Mitschüler auf dem Pausenhof einen selbst gemalten Judenstern an den Pullover und lachten ihn aus. Später rief der Schulleiter bei Goihmans Vater an und riet ihm, den Sohn abzumelden und auf eine Internationale Schule zu schicken. Die anderen Kinder wurden nicht zur Rede gestellt.
Das ist über vierzig Jahre her, doch Goihman hat nicht vergessen. Konnte er auch gar nicht. Als er später in St. Georg lebte, schlugen ihm einmal zwei Männer vor seiner eigenen Haustür die Kippa vom Kopf und riefen: "Hitler hat vergessen, dich zu vergasen!" Ein anderes Mal nannten sie ihn "Kindermörder". 2016 machte Goihman einen Kleinen Waffenschein und kaufte sich eine Gaspistole, die er seither mit sich herumträgt. Für den Notfall. Als er dann im Sommer 2018 vor dem Kleintransporter stand, traf er eine Entscheidung. Er will nicht warten, bis der Notfall eintritt. Er will nicht mehr hinnehmen, dass die Täter ungestraft davonkommen.
Er geht zur und erstattet Anzeige, zum ersten Mal überhaupt, wie er sagt. Dann passiert: nichts. Laut Staatsanwaltschaft habe es zu wenig Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verfolgung gegeben, sagt Goihmans Anwalt, Patrick Purbacher. Goihman legt Widerspruch ein. "Als hier geborener Jude fühle ich mich schon lange nicht mehr sicher. Mit einer Kippa auf die Straße zu gehen kann zum Spießrutenlauf werden", schreibt er in einem Brief an die Staatsanwaltschaft und bittet um eine Wiederaufnahme.
Zwei Jahre später, am 12. Januar 2021, steht Goihman vor dem Sitzungssaal 0.09 des Amtsgerichts in St. Georg und wartet auf den Prozessbeginn. Der Termin fällt in eine Zeit, in der die Stadt Hamburg mit dem Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge ein Zeichen setzen will. Gegen Antisemitismus und für mehr religiöse Vielfalt. Eine Zeit, in der Politikerinnen und Politiker sich an Plakataktionen beteiligen, um jüdisches Leben in Hamburg sichtbarer zu machen. Einerseits. Andererseits werden Hamburger Jüdinnen und Juden auf offener Straße beleidigt und angegriffen, ohne dass die Staatsanwaltschaft ein antisemitisches Motiv bestätigt und eine strafrechtliche Verfolgung oft ausbleibt.
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