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Fußball-Doku über Gezi-Proteste: "Überall ist Taksim" - SPIEGEL ONLINE

Die Szenen auf dem Taksim-Platz sind dramatisch. Tausende protestieren gegen die Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul, die Staatsmacht antwortet mit Wasserwerfern und Tränengas. Die Stimmung neigt sich dem Tiefpunkt. Es besteht kaum Hoffnung, den Kampf gegen die ausufernde Gewalt der Polizei zu gewinnen.

Plötzlich jubeln und applaudieren die Demonstranten, als sie sehen, wer sich ihrem Protest angeschlossen hat: Die Ultras der verfeindeten Istanbuler Klubs Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray betreten den Platz. Sie haben dem Rest der Demonstranten Entscheidendes voraus: Die Erfahrung mit der Polizei, außerdem können sich die Anhänger schnell organisieren und ebenso schnell reagieren. Und plötzlich ist die Hoffnung der Massen zurück.

Es war die Geburt eines einzigartigen Bündnisses. Die Istanbuler Ultras, bekannt für fanatische Rituale und zum Teil gewaltbereite Auseinandersetzungen mit den Anhängern der verhassten gegnerischen Klubs, traten nun gemeinsam auf und legten für die Zeit der Proteste ihre über Jahrzehnte gewachsene und stilisierte Feindschaft ad acta. "Istanbul United" nannte sich die Vereinigung der Ultragruppen - und so heißt auch die Dokumentation, die sich nun diesem besonderen Bündnis nähert.

Die Filmemacher Olli Waldhauer und Farid Eslam nehmen sich zunächst die Zeit, die Animositäten der Klubs zu erklären. Ein Galatasaray-Capo erzählt, dass er Fenerbahce-Fans hasse, seit er sieben Jahre alt ist. Warum? Das wisse er nicht. Der Fenerbahce-Ultra Cahit Bicini sagt: "Früher habe ich mir vorstellen können, Galatasaray-Fans zu killen." Die Liebe zum Klub geht bis hin zum Tod, das bestätigt auch der stadtbekannte Anführer der Besiktas-Ultragruppe Carsi, Ayan Güner.

Doch auf dem Taksim überschneiden sich im Sommer 2013 die Interessen der Fans. Hier wird Freud und Leid geteilt, hier sind die Anhänger wie im Stadion in einer Art Tunnel. Es geht nur darum, sein Team anzufeuern, nach vorne zu schreien oder aber gegen die Polizei zu kämpfen. Es sind nur wenige Szenen, die der Film davon zeigt, wie Istanbuls Ultras an der Front stehen, aber wenn, sind Waldhauer und Eslam mittendrin. Es sind bedrückende Bilder, die den beiden gelingen. Frauen mit verätzter Haut. Kinder und alte Menschen, die sich übergeben. Blutige Köpfe.

Es wird allerdings früh klar: Gegen die Gewalt der Polizei hat auch Istanbul United keine Chance. Das Bündnis entsteht verspätet, die Proteste und auch die Polizeigewalt haben bereits Grenzen überschritten. Kurze Zeit später lässt die Polizei den Gezi-Park gegen jeden Widerstand räumen.

Ultras sind keine Fußballverbrecher

Der Dokumentarfilm erzählt aber nicht nur, wie sich die verfeindeten Fans von Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray verbünden. Er gibt auch Einblicke in das Leben der Ultras, in eine Fußballszene abseits des Alltäglichen. Er erzählt die Geschichte des Galatasaray-Anhängers Can Atalay, der, seit er sieben ist, die Farben seines Klubs trägt. Liebe von seinem Onkel empfing er nur, wenn "Gala" ein Tor schoss.

Geradezu postmodern angehaucht wirkt der Weg des Fener-Fans Binici, der aus Protest gegen die Kommerzialisierung der Fußballkultur den Weg ins Stadion fand. Oder die der Besiktas-Gruppe Carsi, die sich selbst als anarchistisch begreift und im gleichnamigen Istanbuler Viertel zahlreiche soziale Projekte leitet. All das sind Randnotizen - schließlich geht es um eine größere Sache -, doch sie geben dem Film eine weitere Ebene. Nämlich: Ultras sind nicht alleine Schläger, sie sind mitunter auch kritisch und vor allem politisch.

In der Türkei wird das nicht gerne gesehen. Im Dezember soll der Prozess gegen Gründungsmitglieder der Carsi-Gruppe beginnen. Ihnen wird vorgeworfen, die Proteste genutzt zu haben, um die Regierung zu stürzen. Es drohen lebenslange Haftstrafen. Während des Prozesses werden die Besiktas-Fans wahrscheinlich von zahlreichen Unterstützern aus den eigenen Reihen begleitet. Vielleicht auch von "Istanbul United".

Es könnte ein neuer, gemeinsamer Kampf werden. Denn gemessen an den Forderungen der Taksim-Demonstranten ist die heutige Situation in der Türkei ein Horror. Der damalige Regierungschef Erdogan wurde zum türkischen Präsidenten gewählt und hat damit seine Macht gestärkt.

Und auch bei den Fans ist der Alltag eingekehrt: Zwar wurde nur zwei Monate nach den Gezi-Protesten beim Istanbul-Derby Besiktas gegen Galatasaray vereinzelt "Taksim ist überall" gesungen. Es kam allerdings auch zum Spielabbruch, weil Besiktas-Anhänger den Platz stürmten.

Was bleibt, ist die Hoffnung. "Wir wissen jetzt: Wenn die drei Klubs sich zusammenschließen können, dann können wir in diesem Land alles schaffen", sagt die Gezi-Aktivistin Bilgesu Kaye.

Istanbul United: "Überall ist Taksim"

CH, D, CZ, TR

Regie: Farid Eslam, Olli Waldhauer

Verleih: Port-au-Prince

Länge: 87 Minuten

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