Ein Netzwerk aus Studierenden schlägt mit seinen Forderungen zur Veränderung der Hochschullehre derzeit hohe Wellen. Die sogenannten "Pluralen Ökonomen" sind mittlerweile ein Studentenbündnis aus 19 Ländern und prangern die Fokussierung auf die Neoklassik in den Wirtschaftswissenschaften an. Sie finden die Lehre zu kurz gegriffen, unkritisch und einseitig. Seine Forderungen hat das Bündnis in einem Manifest dargelegt. Dabei erhalten die Studierenden prominente Unterstützung durch Wirtschaftswissenschaftler wie unter anderem den Franzosen Thomas Piketty, dessen Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert" seit Wochen auf den amerikanischen Bestsellerlisten zu finden ist. Wir haben mit Studierenden aus Hamburg gesprochen.
Jan-Frederik Thurmann und Marius Dietsch, beide 22, studieren im sechsten Semester VWL an der Universität Hamburg. Samuel Decker, 23, studiert Politikwissenschaften im siebten Semester und beschäftigt sich vor allem im freien Wahlbereich mit der VWL. Mittendrin: Euch geht es darum, die Lehre der Volkswirtschaftslehre (VWL) zu verändern. Wie kam es dazu? Mittendrin: Ihr kritisiert vor allem die Eindimensionalität der Wirtschaftswissenschaften. Prangert ihr auch die aktuellen politischen Zustände wie zum Beispiel Finanzmarktstabilität, Ernährungssicherheit und Klimawandel an?Samuel Decker: Um genau zu sein fing alles schon vor zweieinhalb Jahren an. Die Unzufriedenheit mit der Lehre war groß, da die Theorien in der VWL zum Teil an der Realität vorbeigehen. Der Gründer der Partei Alternative für Deutschland Bernd Lucke, der jetzt wahrscheinlich ins Parlament einzieht, war mein Professor für Makroökonomie. Um den Ganzen etwas entgegenzusetzen, organisierten wir eine Veranstaltungsreihe, in der wir den laufenden Lehrbetrieb scharf kritisierten. Dabei entstand unsere Arbeitsgruppe, die im letzten Herbst den Hamburger Wissenschaftskongress organisiert hat, bei dem rund 500 Menschen teilgenommen haben.
Mittendrin: Wie reagieren gerade die, ich nenne sie mal „alteingesessenen" Professoren, die vorwiegend Verfechter der Theorie der Neoklassik sind?Marius Dietsch: Mir geht es nicht darum, die Politik zu beeinflussen. Ich studiere VWL um die komplexen Wirtschaftskreisläufe und Zusammenhänge besser verstehen zu können. Was mir dabei fehlt, ist die kritische Bildung. Das Reflektieren von Methoden, Inhalten und Theorien findet in der VWL nicht statt. Es gibt eine durch und durch komplexe Realität, im Studium wird aber versucht, gesellschaftliche Phänomene wie die Arbeitsmarktkrise auf eine mathematische Formel herunter zu brechen. Die wissenschaftlichen Standards, die wir fordern, müssten meiner Meinung nach aber partei- und meinungsunabhängiger Konsens sein.
Mittendrin: „Dieselben Annahmen haben" ist ein gutes Stichwort: Hinterfragt die Lehre der VWL denn heute unser kapitalistisches Wirtschaftsystem und benennt Schwächen oder Alternativen?Decker: Natürlich hat die Wissenschaft einen politischen Kontext. Dennoch treten wir für keine konkrete politische Vision an, wir sind keine Partei. Wir wollen, dass die VWL zu einer kritischen und reflektierten Sozialwissenschaft wird, in der auch bislang ausgeschlossene Theorien gelehrt werden - etwa Marxismus oder feministische Ökonomik. Das nennen wir Pluralismus. Natürlich hat das auch politische Konsequenzen, doch wir führen unseren Kampf an den Hochschulen.
Dietsch: Vor allem Professoren aus dem Umfeld von Bernd Lucke sind „Hardliner", die ihre Lehre ernsthaft als wertfrei betrachten. Ihre Lehre sei alternativlos und objektiv, behaupten sie.
Mittendrin: Geht es euch denn nur um Veränderungen in der VWL oder prangert ihr auch die Lehre in anderen Wirtschaftswissenschaften an? Die Betriebswirtschaftslehre (BWL) ist ja stark auf Unternehmen fokussiert und sicher noch mehr dem Bild des "homo oeconomicus", also einem primär wirtschaftlich denkenden Menschen, unterworfen?Thurmann: Viele Professoren denken tatsächlich, dass ihre Forschung plural sei, weil sie verschiedene Modelle anwenden. Vom methodologischen Ansatz her unterscheiden sich diese aber nicht und haben meist dieselben Annahmen.
Mittendrin: An der Universität Hamburg zählen neben den spezialisierten Masterstudiengängen vor allem die Bachelor in BWL und Sozialökonomie zu den Wirtschaftsfächern. Welche Studenten beteiligen sich in eurem Netzwerk?Decker: An und für sich ist die VWL eine beschreibende und kausal-analytische Wissenschaft. Wie funktioniert Außenhandel? Was ist Globalisierung? Wie funktionieren Kapital- und Arbeitsmärkte? Unterschiedliche Theorien kommen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen. Eine marxistische Außenhandelstheorie kommt logischerweise zu anderen Schlüssen als eine neoklassische. Da liegt aber der Hund begraben: Die Vorlesung beginnt nicht mit einer Lobeshymne auf den Kapitalismus, unsere Kritik manifestiert sich mehr an einem „zwischen den Zeilen". Ich mache eine lineare Gleichgewichtsanalyse, also de facto Mathematik aus dem 19. Jahrhundert und das soll dann den Handel zwischen zwei Ländern erklären?
Mittendrin: Wie wollt ihr eure Forderungen konkret in Hamburg umsetzen? Mittendrin: Insgesamt fordern 40 Studentenvereinigungen aus 19 Ländern - darunter Brasilien, Indien und Russland - eine Plurale Ökonomik. Deutschland ist mit 15 Gruppen am stärksten vertreten. Gibt es etwas Spezielles, was den „Standort Hamburg" ausmacht?Dietsch: Professoren flüchten sich oft in Ausreden. Einfache Modelle werden deshalb gelehrt, weil die Professoren den Studenten nicht mehr zutrauen. In der Forschung hingegen gibt es das Problem, dass nur derjenige in seiner persönlichen Karriere vorankommt, der konform ist. Chancen auf eine Professur unterliegen einer extremen Pfadabhängigkeit: der Neoklassik.
Nähere Infos zum Netzwerk Plurale Ökonomik gibt es über die Facebook-Gruppe der Hamburger Studierenden - außerdem findet jeden Mittwoch ab 18 Uhr ein offenes Plenum im Von-Melle-Park 5, Raum 5038 statt. Informationen über das bundesweite Netzwerk gibt es auf www.plurale-oekonomik.deDecker: Viele Professoren bekommen allerdings gerade wegen der Finanzmarktkrise Angst und hinterfragen sich. Doch nichts ist schwieriger als der Rückzug einer unhaltbaren Position.
Thurmann: Die VWL ist eigentlich eine Gesellschaftswissenschaft, wird aber aufgrund der zunehmenden Mathematisierung nicht mehr so wahrgenommen. Gesellschaftswissenschaften sind dazu da, auch Gesellschaftsordnungen zu hinterfragen und zu kritisieren. BWL, das ist ein Handwerk, eine Ausbildung...
Decker: ...zum Teil. Es gibt in der BWL kritische Professoren, doch die werden kaum bis gar nicht zugelassen. Uns geht es um die Ökonomik, das sind die Wirtschaftswissenschaften und da gehört die BWL schon dazu. Aber es ist zum Teil auch schwieriger, auf die BWLer zuzugehen, weil dort, wie gesagt, das Profitinteresse der Konzerne im Mittelpunkt steht.
Thurmann: Wir sind größtenteils Sozialökonomen, viele kommen dazu aus den Sozialwissenschaften. Neuerdings gibt es bei uns aber auch BWLer sowie Meteorologen oder Physiker.
Decker: Ich finde es enorm interessant, dass wir auch von den Studienrichtungen her plural aufgestellt sind. Im Endeffekt geht es doch darum, die Wirtschaft zu verstehen, weil unserer Meinung nach die VWL-Lehre im Jahre 2014 diesem Anspruch nicht gerecht wird.
Decker: Man kann das mit einem Drei-Ebenen-Modell vergleichen. Auf der ersten Ebene steht die eigene Weiterbildung. Dazu treffen wir uns jede Woche und diskutieren neue Ansätze in der VWL. Auf der zweiten Ebene versuchen wir das alternative Wissen durch Veranstaltungsreihen wie den Hamburger Wissenschaftskongress der Pluralen Ökonomik nach außen zu tragen. In einem letzten Schritt geht es uns darum, die harten Strukturen der VWL zu verändern. Wir sammeln Stimmen für den Fakultätsrat, denn wir wollen eine Liste „Plurale Ökonomik" stellen. Neuerdings organisieren wir sogar eine Ringvorlesung, für die uns vom Universitätsbeirat finanzielle Unterstützung zugesagt wurde. Wir machen also sowohl inhaltliche als auch harte, organisatorische Gruppenarbeit.
Decker: Die VWL ist hier vor allem durch ihre „Leuchttürme" Straubhaar und ehemals Lucke sehr konservativ. Es bestehen große Gräben zwischen den Sozialwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften. Wenn ich zwischen meinen Studien wechsle, fühlt es sich so an als betrete ich einen anderen Planeten. Wir als Gruppe sind hier aber sehr kreativ, aktiv und entwickeln eigene Ideen wie die bereits angesprochene Ringvorlesung im kommenden Herbst, die sich auch an die Hamburger Öffentlichkeit richtet. Man muss allerdings sagen, dass die Lehre in Deutschland noch bei weitem nicht an die kritische Tradition angelsächsischer Universitäten wie der Kingston University in London oder der New School in New York herankommt.
Mittendrin: Wir danken für das Gespräch.
Foto: Michel Dingler