Rémy Harache saß am Freitagabend auf dem Sofa und sah sich das Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Frankreich im Fernsehen an, als ihm plötzlich auffiel, dass Explosionen im Hintergrund zu hören waren. „Ich fragte mich, wo die herkamen, und da wurde mir bewusst, dass draußen, rund um unsere Wohnung, Blaulichter, Sirenen und Hubschrauberlärm zu hören waren. Dann war der Hubschrauberlärm plötzlich auch im Fernsehen. Ich war verwirrt und machte das Fenster auf, und dann verstand ich, dass wir mittendrin in irgendetwas waren“, erzählt der 55-Jährige, der mit Frau und Sohn im Herzen von Paris lebt. Der Konzertsaal Bataclan, in dem es mehr als achtzig Tote gab, ist nur anderthalb Kilometer von seiner Wohnung entfernt. Als im Fernsehen von einem Terroranschlag die Rede war, sei sein erster Gedanke gewesen: „Oh nein, nicht schon wieder. Ich war geschockt.“ Und dann stand sein Telefon nicht mehr still. Alle Freunde hätten wissen wollen, ob er noch lebe, und seine Frau, die gerade in Deutschland ist, habe auch angerufen. „Wir waren beide wie betäubt von dem, was hier direkt vor unserer Haustür geschah.“ Er sei bis drei Uhr wach geblieben und habe alles im Fernsehen verfolgt, und dann sei ihm plötzlich bewusstgeworden, dass, während er auf seinem Sofa saß, ein paar Häuserblöcke von ihm entfernt gerade etliche Menschen umgebracht worden waren. Harache fragte sich, was er seinem sechs Jahre alten Sohn am nächsten Morgen sagen sollte.
„Terrorist“ gehört inzwischen zum Wortschatz eines Sechsjährigen
Am Samstagmorgen hat Harache kurz überlegt, ob sein Sohn und er sich überhaupt auf die Straße wagen könnten. „Normalerweise holen wir samstags zum Frühstück immer Croissants, aber nach so einer Nacht?“ Sie hätten sich dann getraut, aber als er die Tür hinter sich zugezogen habe, sei er wachsamer als sonst gewesen. „Die Straße war wie ausgestorben, obwohl das hier normalerweise ein extrem belebtes Viertel ist. In der Bäckerei waren wir sogar die einzigen Kunden, und die Verkäuferin war so reserviert. Alles war ganz anders als sonst.“ Er hat seinem Sohn dann erklärt, dass in der Nacht Terroristen gekommen seien, „aber so, dass er keine Angst bekommen hat“. Wieder zu Hause, erfuhren sie, dass der Tennisunterricht, den der Junge normalerweise samstagmorgens hat, wegen der Anschläge ausfiel. „Als meine Frau morgens noch mal anrief, erklärte der Kleine ihr, er könne wegen den Terroristen nicht zum Tennis. So weit ist es gekommen, dass ein Sechsjähriger so ein Wort schon zu seinem aktiven Wortschatz zählen muss.“
Auch Adèle ist mit ihren dreieinhalb Jahren bestens vertraut mit dem Alltag unter verschärften Bedingungen. „Sie sieht schon genug Maschinenpistolen auf der Straße“, erzählt ihre Mutter, Estelle Marandon, 35, die als Journalistin in Paris arbeitet, auch für diese Zeitung. „Das Militär auf den Straßen, das wird jetzt noch mehr zum Alltag dazugehören. Adèle fragt schon jetzt, zum Beispiel, wenn wir auf dem Weg zum Kindergarten sind: Mama, was macht der Monsieur da?“ 300 Meter vom Kindergarten entfernt liegt das „Le Petit Cambodge“, das kambodschanische Restaurant, in das die Attentäter am Freitagabend ungerührt hineingeschossen haben.
Regelmäßige Besucher des Bataclan
Marandon hält sich an diesem Wochenende mit ihrem französischen Mann, mit Adèle und dem ein Jahr alten Sohn Viktor im Ferienhaus der Schwiegereltern in Nordfrankreich auf, Paris hatte sie schon vor den Anschlägen verlassen. In Gedanken ist sie trotzdem in ihrer Heimatstadt: „Das sind unsere täglichen Wege, unsere Orte. Canal Saint-Martin und Rue de Marseille im 10. Arrondissement sind gerade sehr angesagt, coole Leute treffen sich dort.“ Jetzt wird das kaum mehr so sein. „Die Vorstellung, meine Tochter dort in den nächsten Wochen wieder hinzubringen, ist ein ganz komisches Gefühl. Man ist an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.“ Auch die Konzerthalle Bataclan kennt Marandon gut, von den tollen Stand-up-Comedys. „Mein Mann meinte gleich: Gott sei Dank, dass wir wegen der Kinder nicht mehr so oft ausgehen. Aber was, wenn es tagsüber passiert?“
Und noch etwas ist jetzt anders, auch im Vergleich zu der Zeit nach dem Attentat auf das Satireblatt „Charlie Hebdo“. Jetzt sind alle Bürger ins Visier der Terroristen geraten. Auch Muslime, von denen sehr viele wie er selbst im 2. Arrondissement lebten, erzählt Rémy Harache. Niemand könne sich mehr sicher fühlen. Im Kindergarten von Estelle Marandons Tochter werden sie, sobald der irgendwann wieder öffnet, deshalb mit Sicherheit auch Gebrauch von der Kamera am Eingang machen. „Das war schon im Januar so“, erzählt Marandon. „Man musste klingeln, sich gut sichtbar vor die Kamera stellen und seinen Namen sagen.“ Erst dann öffnete sich die Tür.
Geschlossene Schulen und Kindergärten bereiten Probleme
Auch die Stille, die jetzt auf den Straßen von Paris herrscht, kennen Marandon und ihre Tochter Adèle schon vom letzten Mal. „Damals haben wir sofort eine E-Mail vom Kindergarten bekommen. Leider hat der Kindergarten keinen eigenen Hof.“ Dafür gehen die Kinder für gewöhnlich zum Draußenspielen in den Park um die Ecke, auf einen kleinen Spielplatz. „Sie brauchen ja Auslauf. Nach den Anschlägen im Januar durften sie dann mehrere Monate gar nicht mehr raus, das war Teil des Plan Vigipirate.“ Präsident Valéry Giscard d’Estaing rief den Plan im Jahr 1978 zum Schutz gegen Terrorismus ins Leben, heute bestimmt er den Alltag der Pariser wie nie zuvor. „Nicht raus zu können ist für die Kinder unangenehm, und natürlich wird es jetzt wieder so kommen.“ Beim letzten Mal bekamen die Eltern die Möglichkeit eingeräumt, ihre Kinder eine Stunde eher abzuholen, um 16 statt um 17 Uhr, um noch etwas zu unternehmen. Rausgehen auf eigene Gefahr.
Dass Schulen und Kindergärten jetzt erst mal geschlossen bleiben, dass man den Nachwuchs eine Stunde eher abholen muss, damit der, bevor es früh dunkel wird, überhaupt noch eine Weile an die frische Luft kommt, das ist gerade für die Franzosen ein Problem. Ausgerechnet sie, die so dafür bewundert werden, Familien- und Berufsleben eigentlich bestens unter einen Hut zu bekommen. „Wenn es gar nicht anders geht und die Kinder nicht gerade komische Pusteln im Gesicht haben, schicken die Eltern sie oft trotzdem in den Kindergarten“, erzählt Marandon. „Man gibt dem kranken Kind eine Paracetamol und hofft, dass das Fieber anschließend nicht wieder steigt. Ich habe es schon oft erlebt, dass die Erzieher anderen Eltern abends erzählten, wie das Kind den ganzen Tag gespuckt hat und fiebrig war. Schon interessant, dass dann niemand anruft.“ Marandon schätzt, dass die Schulen und Kindergärten ihren Betrieb auch deshalb eher früher als später wiederaufnehmen werden.
„Ich weiß noch nicht, ob sich dadurch in meinem Leben etwas verändern wird“, sagt auch Rémy Harache. „Ich schätze mal, man wird irgendwann wieder zu seiner Normalität zurückfinden.“ Aber er fürchtet, dass sich sein Land durch diesen Anschlag noch weiter verändern wird, dass die extreme Rechte, der Front National, noch mehr Stimmen bekommt und dass Präsident Hollande Entscheidungen treffen wird, die Frankreich noch mehr Anschläge bescheren werden. Auch Estelle Marandon hat beobachtet, wie sich das Klima in ihrer Gegend in den vergangenen Jahren verändert hat, hin zu mehr krimineller Energie. Die Parallelgesellschaften, in keiner anderen europäischen Stadt dürften sie konsequenter gelebt werden als hier, wo es schon eine Art Auszeichnung ist, ein in Paris geborener Mensch zu sein, wo man lieber unter sich bleibt. „Hier mischt sich nicht viel“, sagt Marandon. Wir wohnen direkt am Buttes Chaumont mit Blick zum Park. Dort ist alles sehr beau beau, wie man das nennt. Aber ein paar Straßen weiter hängen schon die Jungs rum, viele Schwarze, Araber. Dass die Gruppen unter sich bleiben, das hat man überall, aber vielleicht ist es hier ein bisschen extremer.“ Doch niemand hat das erahnen können, was sich am Freitagabend ereignete. Etienne Huver, ein 39 Jahre alter Fernsehjournalist, der beruflich schon oft im Krieg war, zuletzt in Syrien, sagt: „Solche Bilder kennt man eigentlich nur aus Krisenregionen.“ Am Freitagabend war er mit seiner Partnerin in der Pariser Philharmonie, und als sie nach dem Konzert in die Nacht hinaustraten und ihre Handys wieder einschalteten, traf sie die Nachricht wie ein Schock. „Wir haben uns dann überlegt, wo wir hinsollen, und wollten wieder zurück in die Philharmonie, um uns in Sicherheit zu bringen. Man wusste ja nicht, wo als Nächstes was passieren würde. Aber die haben einfach die Türen zugemacht.“ Sie seien dann zu Fuß nach Hause gelaufen, 25 Minuten durch die Nacht. „Wir waren sehr angespannt und wachsam. Ich war selten so froh, die Haustür hinter mir zuziehen zu können.“
Muslime fürchten Anfeindungen
Die deutsche Journalistin Franziska Jäger hat den Freitagabend gemeinsam mit der marokkanischen Familie verbracht, bei der sie seit Anfang des Monats wohnt. Als die Nachricht von den Anschlägen kam, habe der 12 Jahre alte Sohn am Tisch sofort zu weinen begonnen: „Sicherlich werden wieder muslimische Terroristen dafür verantwortlich gemacht, das wird dann auch für unseren Alltag hier in Paris wieder schlimm in den kommenden Wochen“, hätten sie gesagt. „So ein schrecklicher Anschlag macht es für uns Muslime in der französischen Gesellschaft ganz schwierig. Wir werden jetzt wieder mitbeschuldigt und stehen alle schlecht da.“ Die beiden hätten richtig Angst bekommen. Angst war auch zu spüren, als Jäger am Morgen danach mit der Métro in die Stadt fuhr, deren Waggons, wie sie sagt, „gespenstisch leer“ waren. „Das war ein sehr beklemmendes Gefühl. Es herrschte Totenstille. Das einzige Geräusch kam von einer Frau, die Erdnüsse aus einer Tüte aß. Das hat ein solch lautes Geräusch in diesem stillen Zug gemacht, dass man über dieses Knistern wirklich erschrocken war. Wenn man sich nur mal überlegt, welcher Lärm sonst in der Métro herrscht.“ Auch Jäger befürchtet, dass sich in Paris viel ändern wird: „Das ist ein Drama für die Stadt und ihren Tourismus, sie verliert ihren Charme und ihre Romantik.“
Schon vor den Anschlägen war Paris eine anstrengende Stadt, gerade für Familien. „Sie ist teuer, man muss sie sich leisten können, das sind die altbekannten Argumente“, erklärt Estelle Marandon. „Einen Garten zu haben oder überhaupt Platz, das ist hier nicht möglich.“ Jetzt, da sich die Sicherheitslage verändert, hätten Marandon und ihr Mann sich sofort gefragt, was sie hier eigentlich noch machten. Viele Freunde seien schon weggezogen, „die machen sich in Marseille ein gemütliches Leben oder sind jetzt, da sie auf dem Sprung nach Bordeaux sind, sehr froh darüber, bald woanders zu leben. Aber natürlich können das die wenigsten, allein schon aus beruflichen Gründen.“ Marandon bekommt nächste Woche Besuch von einer Freundin aus Deutschland. Eigentlich wollten sie mal wieder ausgehen, Kneipentour, Shoppingtour. „Wir werden uns nicht verstecken, aber die Métro zu nehmen, das ist mir zurzeit zu gruselig. Da fahre ich lieber Fahrrad oder gehe zu Fuß.“
Oder man geht eben doch nicht vor die Tür. Harache sagt: „Der Himmel kommt mir heute noch grauer vor als sonst. Wir werden heute zu Hause bleiben.“
Autoren: Katrin Hummel, Lucia Schmidt, Jennifer Wiebking: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
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