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"Wunsch nach Wechsel": Spaniens Wähler beenden das Zweiparteiensystem - SPIEGEL ONLINE

Wenig Zeit? Am Textende gibt's eine Zusammenfassung.

Mariano Rajoy hat ein Drittel der Sitze und die absolute Mehrheit im Parlament verloren. Trotzdem lässt er sich von seinen Anhängern feiern. "Presidente! Presidente!" und "Yo soy español", singen die Anhänger seiner konservative Volkspartei PP auf der Wahlparty vor dem Parteisitz. "Ich werde versuchen, eine stabile Regierung zu formen", verspricht Rajoy der Menge - und deutet damit eine Revolution in der spanischen Demokratie an: Zum ersten Mal seit gut 30 Jahren braucht ein Ministerpräsident einen Partner zum Regieren.

Etwa eine halbe Stunde später, auf dem Platz vor dem berühmten Kunstmuseum Reina Sofía, tritt Pablo Iglesias vor seine Anhänger. "Wir sollten jetzt nicht über Koalitionen reden, sondern über Verfassungsreformen", fordert der Anführer der Protestpartei Podemos.

"Sí se puede", rufen ihm seine Anhänger begeistert zu, "Es geht doch". Der 37-Jährige hat die linke Bewegung Podemos in den spanischen Kongress gebracht: im ersten Anlauf und gleich als drittstärkste Kraft. Kein Wunder, dass der ehemalige Universitätsprofessor über das ganze Gesicht strahlt.

In Spanien herrschte bisher ein Zweiparteiensystem von Konservativen und Sozialisten. Bei den Wahlen am Sonntag holte Rajoys konservative PP zwar mit 28,71 Prozent noch die meisten Stimmen. Aber bei der Parlamentswahl vor vier Jahren waren es noch fast 45 Prozent gewesen. Die sozialdemokratische PSOE kam diesmal auf 22,02 Prozent und verlor damit fast sechs Prozentpunkte. Die Wähler hätten ihren "Wunsch nach einem Wechsel" zum Ausdruck gebracht, sagte Sozialisten-Chef Pedro Sánchez in Madrid.

Und der Wechsel kommt - in Form von zwei neuen starken Kräften im spanischen Parlament: Podemos kam bei der Wahl am Sonntag auf gut 20 Prozent der Stimmen und die wirtschaftsfreundliche Ciudadanos auf knapp 14 Prozent ( alle aktuellen Hochrechnungen und Hintergründe zu den Parteien finden Sie hier).

Das Ende einer Ära

Während Rajoy am Sitz der PP seine Dankesrede hält, jubelt in der Menge auch die 22-jährige Ester Lopez. Die Jura- und Politikwissenschaftsstudentin ist seit vier Jahren Mitglied bei den Nuevas Generaciones, dem Jugendverband der PP. Die jungen Parteimitglieder sind deutlich in der Unterzahl an diesem Abend. Sie erleben hautnah das Ende einer Ära, die vor ihrer Geburt begonnen hat: Das faktische Zweiparteiensystem aus PP und PSOE ist beendet.

Gut zwei Kilometer entfernt stimmt Isabell Serra zusammen mit Tausenden Podemos-Anhängern ein Lied der Republikaner aus der Zeit des spanischen Bürgerkriegs an. Für ihre Partei beginnt heute eine neue Ära. Trotzdem spricht die 26-Jährige von einem "zweischneidigen Ergebnis". Die Zeit der "korrupten Politikerkaste" sei zwar vorbei. Dafür sei Spanien jetzt mit Instabilität konfrontiert. Serra spricht aus Erfahrung. Sie sitzt seit einem halben Jahr im Parlament der Region Madrid - und das wird von einer Minderheitsregierung der PP mit Unterstützung der Ciudadanos dominiert.

Wie Podemos wurde, was es ist

Podemos ist jetzt auf allen politischen Ebenen präsent. Doch der Weg dahin war nicht einfach. Serras Werdegang ist symbolisch für das Entstehen der Partei. Er begann mit dem Widerstand gegen die Einführung des Bologna-Systems an den Universitäten. Danach engagierte sie sich in der Protestplattform Juventud sin Futuro (Jugend ohne Zukunft) und war maßgeblich an der Entstehung der Massendemos in Spanien ab dem 15. Mai 2011 beteiligt. Zwei Monate lang besetzten die Anhänger zentrale Plätze in den Städten Spaniens. Ihr Slogan: "Ohne Zuhause, ohne Arbeit, ohne Renten, ohne Angst!" Ihr Hassobjekt: die Regierung, die Banken, das politische System. Es war die Geburtsstunde von Podemos, und Serra ist Mitglied der ersten Stunde.

Der jungen PP-Anhängerin Lopez ist dieser unkonventionelle Weg, Politik zu machen, ein Graus: "Blockaden und Angriffe auf Polizisten sind falsch", sagt sie zu den überwiegend friedlichen Protesten. Es gebe Portale für Bürger, auf denen sie sich beschweren könnten. Zudem könnten sie sich in den bestehenden Parteien engagieren. Während der Wahlkampagne hatte Lopez an vorderster Front gestanden, Plakate geklebt, Infostände betreut und Rajoy zu seinen TV-Auftritten begleitet. Für sie gibt es keinen besseren Regierungschef: "Ich bin stolz auf ihn, auch wenn er jetzt eine schwere Zeit vor sich hat."

Entscheidendes Thema: die Wirtschaftskrise

Mit knapp 78 Prozent war die Wahlbeteiligung in Madrid fünf Prozentpunkte höher als der Landesdurchschnitt. Zeitweise bildeten sich lange Schlangen vor den Wahllokalen. Das Thema, das die Menschen zu den Urnen getrieben hat, ist die Wirtschaftskrise. "Die Spanier haben viel gelitten in den vergangenen Jahren", sagt Arantxa Barrientos. Die Straßenbau-Ingenieurin war selbst zwei Jahre lang arbeitslos. Die 40-Jährige stimmte für PP, "weil das die Einzigen sind, die mit der Krise umgehen können und die unsere Interessen in Europa verteidigen". Seit Rajoy Präsident ist, habe sich viel verbessert, sagt Barrientos. Es würden wieder Autobahnen und Zugtrassen gebaut.

Nicht so positiv sieht das Rentner Emiliano Caño. "Unser größtes Problem sind die korrupten Politiker", sagt er. Es fehle an wirksamer Kontrolle, weil das Wahlsystem die kleinen Parteien benachteilige. Doch trotz seiner Unzufriedenheit setzte Caño sein Kreuz bei der Liste der Sozialisten (PSOE), so hat er es fast schon sein ganzes Leben lang gemacht.

Gegen diese Einstellung ist Alfons Pérez. Er hat seine Stimme diesmal Podemos gegeben, "weil ich die Situation vorausgesehen habe", wie der Taxifahrer sagt. Er will allerdings gar nicht, dass Iglesias an die Macht kommt, sondern: "Ich will den großen Parteien eine Lektion erteilen, damit sie die korrupten Politiker bis zu den nächsten Wahlen aussortieren."

Die nächsten Wahlen könnten bereits in zwei Monaten folgen. So sieht es das Gesetz vor, sollte es Rajoy oder dem PSOE-Kandidaten Sánchez nicht gelingen, bis dahin eine stabile Koalition zu formen.

Rajoy kündigte zwar an, eine stabile Regierung bilden zu wollen. Er ließ aber offen, wie diese aussehen könnte. Es dürften komplizierte Koalitionsverhandlungen notwendig sein: Ein Mitte-Rechts-Bündnis seiner Partei mit den Ciudadanos bliebe unter der absoluten Mehrheit, zudem hatte der Liberalen-Chef Albert Rivera bereits festgelegt, dass die Ciudadanos Rajoy nicht erneut zum Regierungschef wählen werden. Die Liberalen wollen auch keine Koalition mit der PSOE eingehen. Und eine Linksallianz von PSOE und Podemos brächte im Parlament nicht genügend Stimmen zusammen.

Zusammengefasst: Bei den Parlamentswahlen in Spanien haben die beiden Großparteien Verluste erlitten. Die konservative PP von Ministerpräsident Mariano Rajoy wurde mit knapp 29 Prozent zwar stärkste Kraft, verlor aber ihre absolute Mehrheit. Auch die Sozialisten (PSOE) wurden von den Wählern abgestraft. Mit der neuen Linkspartei Podemos und der liberalen Ciudadanos werden nun erstmals in der jüngeren Geschichte Spaniens vier Parteien mit starken Fraktionen im Parlament vertreten sein. Zur Regierungsbildung dürften komplizierte Koalitionsverhandlungen notwendig sein.

Mit Material von dpa
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