Seit rund einer Woche gilt im öffentlichen Nahverkehr deutschlandweit das 9-Euro-Ticket. Eingebracht wurde es von den Grünen, um der Journalismusbranche in der Krise eine kurzfristige Entlastung zu bieten - und zwar in Form eines neuen Genres, das seit vergangenem Mittwoch die Zeitungsspalten erobert: die 9-Euro-Ticket-Reportage.
Ob „Der Spiegel", „Süddeutsche Zeitung" oder „Hamburger Abendblatt": Jedes Medienhaus, das etwas auf sich hält, hat seit 1. Juni Autor:innen (wahlweise auch Praktikant:innen oder Volontär:innen) in den nächsten Regionalzug gesetzt, um eine launige Reportage einzufangen. Optional wurden auch Social-Media-Kanäle und eigens eingerichtete Liveticker bespielt, damit die Menschen zuhause das ÖPNV-Abenteuer in Echtzeit mitverfolgen können.
Für alle, die etwas spät dran sind, aber auch eine eigene und völlig einzigartige 9-Euro-Ticket-Reportage schreiben wollen, haben wir einen Baukasten mit den wichtigsten Elementen des neuen Genres vorbereitet.
Bahn frei für WortwitzeSpringen Sie auf den Zug auf, ehe er abgefahren ist. Zunächst braucht es eine knackige Überschrift, am Besten natürlich mit einem Zug-Wortspiel. Ob „In einem Zug" ( „Stern") oder „In vollen Zügen genießen" ( taz) - die Möglichkeiten sind nahezu endlos.
Anschließend sollte man sich überlegen, welche Strecke die Reportage absteckt. Zwar bieten sich lokale Ausflüge an, andererseits wirken Fahrten unter zwölf Stunden ambitions- und reizlos. SZ und FAZ machen es vor: Sie schickten Reporter von München nach Sylt, die ultimative „Endstation Sehnsucht" ( FAZ).
Auch bietet es sich an, das Ganze mit einer semi-ironischen Einordnung zum journalistischen Ansturm auf die Regionalzüge zu begleiten, gerne mit Verweis auf den Twitter-Diskurs oder entsprechende Postillon-Meldungen. Damit lässt sich zugleich elegant die Frage umschiffen, wozu Leserinnen und Leser noch eine Reportage aus dem ÖPNV-Alltag brauchen, den nicht wenige von ihnen aus eigener Erfahrung zu Genüge kennen.
„Wer sich in diesen Tagen auf die Reise macht, einmal quer durchs Land, von Süden nach Norden, der gilt, je nach Sichtweise als abenteuerlustig, als wahnsinnig - oder ist von Beruf Journalist."
Sitzt der Reporter erstmal im Zug, kann es endlich losgehen. Seien es mitgehörte Dialoge, Eindrücke vom Wetter oder Szenen, die an die eigene Kindheit erinnern: Jede noch so kleine Beobachtung ist wertvoll für die Leserinnen und Leser zuhause. Der Liveticker bietet natürlich die Chance, besonders in die Tiefe zu gehen. So erfährt man beim „Spiegel" in Echtzeit:
„Johannes, der seinen Mitschüler:innen eben den Hotspot spendiert hat, frohlockt: "Digga, ich hol mir was zu essen." Problem: Außer einem Snackautomaten ist da draußen nicht viel, Johannes bleibt sitzen."
Atemlos.
Um die Provinz-Exotik restlos auszuschöpfen, empfiehlt es sich unbedingt, auf schrullige Ortsnamen hinzuweisen, die einem unterwegs begegnen. Von Schmilka-Hirschmühle über Neudietendorf bis hin zu Langenprozelten - nahbarer wird es nicht. Diese Zuglandschaft lässt sich dann mit einem Repertoire von vertrauten Figuren bevölkern. Der entnervte Schaffner hat in nahezu jedem Text einen festen Auftritt, in seiner Beliebtheit nur noch übertroffen von den Grüppchen kultiger Punks auf dem Weg nach Sylt.
L'enfer, c'est les autresBei alledem darf auch die Bahn-Wut als beliebtester deutscher Volkssport nicht zu kurz kommen. Fehlende Steckdosen, kaputte Klimaanlagen und natürlich unpünktliche Züge: Die 9-Euro-Ticket-Artikel zeichnen kein rosiges Bild vom Zustand des öffentlichen Nahverkehrs. Im „Spiegel"-Liveticker konnte sogar mitgefiebert werden, ob der Reporter seinen Anschlusszug trotz Verspätung noch erreicht - inklusive innerem Monolog:
„Nur wenige Minuten für den Umstieg. Warum habe ich mich nicht direkt vor der Tür positioniert? Die anderen Fahrgäste sind mir da einen Schritt voraus. Gleich heißt es: rennen."
Nervenkitzel pur.
Doch nicht nur die Mängel der Bahn, auch deren natürliche Fauna sind fester Bestandteil des 9-Euro-Abenteuerberichts. „Jemand hört so laut Musik, dass das ganze Abteil mithören muss", so beklagt es zwischen Leinefelde und Neudietendorf der Reporter des „Hamburger Abendblatts". „Ein anderer raschelt permanent mit einer Brötchentüte. Und mein Vordermann riecht nach Zigarette."
Nun könnte man einwenden, dass diese banalen Ärgernisse des Bahnfahrens für viele Menschen bekannt, wenn nicht alltäglich sind. Worin liegt also der Mehrwert solcher Zeilen, wenn nicht dieses gesamten Genres für die Leserinnen und Leser?
„FAZ"-Autor Timo Frasch findet in seiner etwas überladenen Präambel, die insgesamt rund ein Drittel seines Textes ausmacht, immerhin eine einleuchtende Antwort für sich: Für einige Leser der „Frankfurter Allgemeinen" sei der öffentliche Nahverkehr schlicht unbekanntes Terrain... Damit also ran an die Notizblöcke! Jedes Rascheln der Brottüte, jeder Fuß auf dem Nachbarsitz ist eine Erwähnung wert, möglicherweise gar eine Eilmeldung.
Regionalzug-RomantikUnd dennoch scheint im öffentlichen Personennahverkehr auch so etwas wie Romantik möglich. Nur im Regionalexpress lernt man Deutschland wirklich kennen, während Kuhherden, Weinberge oder thüringische Märchenwälder am Fenster vorbeiziehen. In dieser zeitlosen Entschleunigung kommen die Menschen zusammen: von quengelnden Schulkindern und gutmütigen Rentnerinnen bis hin zu konzentrierten Workaholics vor dem Laptop - der „typische Zug-Menschen-Mix", wie man im „Kölner Stadtanzeiger" liest.
Es scheint fast, als hätten Journalist:innen im Nahverkehr die Seele der Bundesrepublik entdeckt, eine wiedergefundene Bodenständigkeit als Gegenentwurf zum ICE-Jetset-Metropolenjournalismus.
„ICEs, das waren für mich Züge für Menschen, die irgendwo hinwollten, von A nach B", schreibt „Stern"-Reporter Jonah Lemm. „REs, das waren Züge für Menschen wie Chris und mich, für Menschen die wegwollten. Von A nach weniger B-schissen."
Die Rückfahrt wird kurzerhand trotzdem im ICE gebucht.
Damit sind sämtliche Bausteine versammelt, die eine einzigartige 9-Euro-Ticket-Reportage ausmachen. Fraglich ist, ob dieses Genre ein kurzfristiger Trend bleibt oder ob es uns auch über die erste Juniwoche hinaus begleiten wird. Immerhin gilt das Angebot für insgesamt drei Monate - reichlich Zeit, um das Genre weiterzuentwickeln.
Wie bei Zug-Wortspielen lässt sich auch hier immer noch eine Schippe drauflegen.
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