Seinen richtigen Namen will er nicht nennen. Sein Gesicht will er nicht zeigen. Aber reden will Ahmad, über seinen Wohnort, dieses durchrestaurierte Idyll östlich von Leipzig. "Wurzen ist eine gute Stadt", sagt der 18-Jährige, "aber nicht für Flüchtlinge und Ausländer." Er und seine Familie jedenfalls, das stehe nun fest, würden so schnell wie möglich wegziehen.
Der Afghane hockt in einem Zimmerchen nahe des Wurzener Doms, atmet tief durch, und während er seine Hände knetet, erzählt er: von seiner Sicht der Dinge, von der Stimmung im Ort, vom Park am Bahnhof. "Um 18 Uhr, wenn es dunkel wird, sind da die Nazis", sagt Ahmad. "Die machen Stress und schlagen Ausländer."
Ahmad selbst hat bislang keine Schläge abbekommen, wie er sagt, aber einige seiner Freunde. Die Aggressionen gegen Flüchtlinge beschäftigen Wurzen seit Längerem. Zuletzt eskalierte die Situation im Ort mehrfach binnen weniger Tage, betroffen von Bedrohungen, Übergriffen, Gewalt sind Flüchtlinge, Journalisten - und auch mutmaßliche Rassisten.
In der 16.000-Einwohner-Stadt zeigt sich exemplarisch, wie sich das Land derzeit verändert und warum mancherorts die Stimmung zu kippen droht. Die Asylkrise und der gesamtgesellschaftliche Rechtsruck, gescheiterte Sozialpolitik und ein massives Misstrauen in Politik und Medien - all das kommt hier zusammen.
In Wurzen entlädt sich der Frust am 12. Januar. In jenem Park, der wie ein Nadelöhr zwischen Stadtzentrum und Bahnhof liegt, geraten an diesem Abend, so die Polizei, zwei Gruppen "junger Deutscher und Ausländer" aneinander. Die erste Rekonstruktion ergibt Folgendes: Die Zuwanderer ziehen sich nach einem Verbalscharmützel in ihre nahe gelegene Wohnung zurück, verfolgt von zwei Deutschen, die dort gegen die Haustür hämmern und eine Scheibe einschlagen.
Mehrere der Zuwanderer kommen nun aus dem Haus, folgen den beiden Deutschen - die daraufhin im Park Unterstützung von etwa 30 Landsleuten erhalten. Diese Gruppe wiederum verfolgt nun die Ausländer zurück zu deren Haus, aus dem daraufhin ein Dutzend Migranten mit Messern und Knüppeln stürmen. Im folgenden Kampf erleiden zwei junge Deutsche Stiche ins Bein, irgendwer setzt einen Elektroschocker ein, im Haus tobt die Gewalt bis zum Eintreffen der Polizei weiter. Die Bilanz: vier verletzte Deutsche, zwei von ihnen schwer, drei verletzte Ausländer.
Die Ermittler weisen zugleich darauf hin, dass die Hintergründe der Schlägerei noch unklar sind und man zur "Vereinfachung" auf die wenig differenzierenden Begriffe "Deutsche" und "Ausländer" zurückgegriffen habe. "Die Polizeidirektion Leipzig kann gegenwärtig noch nicht sagen, welcher konkrete Anlass die Gewaltkette begründete", heißt es in der Mitteilung. Das Geschehen sei so unübersichtlich gewesen, dass man noch nicht sicher sagen könne, wie genau es sich abgespielt hat.
Ja, was denn nun?
"Am Abend des 12. Januar spielte sich hier ein Drama ab", sagt Wurzens Oberbürgermeister Jörg Röglin. Er lehnt sich in seinem Büro weit zurück und geht direkt zur Rechtfertigung über: "Wir tun das, was wir können." Der SPD-Politiker erzählt, dass die Stadt Projekte gegen Extremismus unterstütze, dass alle Flüchtlinge dezentral untergebracht seien, dass im Bahnhofspark ein Alkoholverbot gelte. Aber das reiche nun mal nicht, um solche Probleme schnell zu lösen. Und einen schlechten Ruf habe der Ort ja nicht erst seit dem 12. Januar.
Was Rögling damit meint: Wurzen ist nicht nur seit Jahrzehnten bekannt für seine Kekse und den Dichter Joachim Ringelnatz, sondern auch als Hochburg gewaltbereiter Hooligans und Neonazis. In den Neunzigern jagten Rechtsextremisten portugiesische Arbeiter durch die Stadt und überfielen ein Asylbewerberheim, später folgen rassistische Ausfälle bei Jugendfußballspielen und der Verkauf von "Odin statt Allah"-Sweatern rechter Modelabels.
"Regeln, die dann keiner einhalten muss"
Aus diesem Milieu kamen vermutlich auch viele derjenigen, die am vergangenen Wochenende negativ auffielen. Bei einer Demo gegen Rassismus am Bahnhofspark tauchten mutmaßliche Neonazis auf, die vermummt und mit Schlagstöcken bewaffnet mehrere Journalisten einschüchterten. Am selben Abend, um 21.02 Uhr, zog die Polizei in einer Mitteilung ihr Fazit: "Eine friedliche Kundgebung in Wurzen mit keinerlei gewalttätigen Auseinandersetzungen."
Bürgermeister Röglin will das nicht hinnehmen. Er strebt eine "Sicherheitspartnerschaft" mit der Polizei an, unter anderem will er künftig besser informiert sein über den Ermittlungsstand, um politisch reagieren zu können. Nach dem Gewaltexzess vom 12. Januar habe er schon am nächsten Tag Interviews gegeben, obwohl er da selbst nur die Pressemitteilung der Polizei gekannt habe.
Wie er das Problem nun angehen wolle? Röglin spricht über mehr aufsuchende Sozialarbeit, einen Erfahrungsaustausch mit anderen Bürgermeistern, vielleicht auch Überwachungskameras: "Natürlich kann man immer mehr machen, aber unsere Ressourcen sind begrenzt." Er habe etwa gar nicht genug Leute, um das Alkoholverbot im Bahnhofspark durchzusetzen - und das sei vielen Wurzenern nicht mehr zu vermitteln, "dass wir Regeln aufstellen, die dann keiner einhalten muss." Viele würden selbst im Notfall nicht die Polizei rufen, "weil die einfach nicht schnell genug kommen."
Das klingt nach Resignation, fast nach Kapitulation, aber so will der 47-Jährige nicht verstanden werden. "Wir haben keine Wahl: weitermachen", sagt er. "Das war ein Rückschlag, aber keine Niederlage."
So optimistisch sind bei Weitem nicht alle Wurzener. Jens Kretzschmar spaziert an diesem sonnigen Januartag durch den Bahnhofspark, er trägt Viertagebart und Turnschuhe. "Da drüben", sagt er und zeigt in Richtung eines Parkplatzes, "haben sie Kerzen und Blumen hingelegt". Dort hatte sich nach der Schlägerei einer der Schwerverletzten blutend hingeschleppt. "Ich dachte erst, dass es Tote gab, als ich die Kerzen gesehen habe", sagt Kretzschmar.
Tote gab es nicht, aber die rechte Szene nutzt den Vorfall geschickt zur Konstruktion einer Opferrolle. Kretzschmar lacht darüber, es klingt verzweifelt. Der 44-Jährige ist Stadtrat für die Linken und Gründer des "Netzwerks für demokratische Kultur", das sich für Flüchtlinge einsetzt.
In den vergangenen Jahren sei die Zahl der Unterstützer deutlich gestiegen, sagt Kretzschmar, viele hätten eine klare Haltung. "Für die einen ist es ein Ausländer-Problem, für die anderen ein Nazi-Problem." Und auf gewisse Weise habe die jüngste Eskalation ja vielleicht sogar was Gutes: "Jetzt wurde deutlich, dass noch mehr gegen rechts getan werden muss."
Kretzschmar sorgt sich vor allem um die rund 200 Flüchtlinge. "Viele haben schon die Stadt verlassen oder suchen gerade eine Wohnung in Leipzig", sagt er. "Ich hoffe nicht, dass es so weitergeht - und sich die Wurzener auch mal darüber Gedanken machen."
Im Ort kursieren zahlreiche Gerüchte: Die Ausländer hätten die Attacke mit Kalkül geplant ("Warum sonst hatten die denn wohl Messer dabei?"), Deutsche hätten sterben sollen ("Einer liegt im Koma und keiner weiß, ob er überhaupt durchkommt") und die Journalisten wären sowieso gegen Wurzen ("Die verschweigen das doch alles").
Müßig zu erwähnen, dass es für all das keine Belege gibt. Wie genau die Rollen von Opfern und Tätern am 12. Januar verteilt waren, ist laut dem zuständigen Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrum der Polizei noch immer unklar. Das Gerücht, ein Deutscher sei in Bauch und Gesicht gestochen worden und schwebe seither in Lebensgefahr, dementiert LKA-Sprecher Tom Bernhardt. Alle anderen offenen Fragen könne er schlichtweg nicht beantworten: "Wir wissen einfach noch nicht mehr, die Ermittlungen laufen auf Hochtouren."
Mitarbeit: Florian Barth