Kapitalismus, Bedürfnisse und Begehrnisse
Gernot Böhme,
der Grandseigneur der Ästhetischen Theorie, denkt über „ästhetischen
Kapitalismus“ nach. Seine auf Marx, Adorno und Baudrillard fußenden
Begriffe werfen ein grelles Licht auf ein System, das nur noch von
„Surplus-Konsum“ gestützt wird. Das bedeutet: Wir kaufen Dinge, die wir
nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, und halten das für normal
und vernünftig.
So weit, so anerkannt, so langweilig. Böhmes Kraft liegt in der Kunst
der Differenzierung. Für ihn erfüllt unser Konsum schon lange keine
Bedürfnisse mehr, sondern antwortet auf produzierte „Begehrnisse“, die
durch ihre Befriedigung nur intensiviert werden. Das ist kühn auf das
Subjekt hin gedacht und führt zu einer Erkenntnis, die Marx zur Ehre
gereicht hätte: „Der Mensch transformiert sein System der Bedürfnisse,
um den Anforderungen kapitalistischer Entwicklung, d.h. eines immer
weiter fortschreitenden Wachstums zu entsprechen.“
Die Ideologie des Wachstums atomisiert Böhme mithilfe des physikalischen
Leistungsbegriffs im stärksten Teil des Buches mit sowohl sparsamen als
auch eleganten Argumenten. Mit wenigen Leitlinien erklärt er
Erstaunliches: den Zusammenhang von Burn-out, Freizeitstress und
Zinspolitik.
Die Rückbindung an die brillante Einleitung funktioniert in der zweiten
Hälfte zusehends schlechter, etwa in den Analysen zur Warenästhetik und
Architektur, wo Böhme hinter die heuristische Kraft seiner Begriffe
zurückfällt. Das ist auch dem Format geschuldet: Bei den Kapiteln
handelt es sich um Aufsätze, die zwischen 2001 und 2012 entstanden sind.
In einem Kapitel zu Adorno versucht Böhme trotz Kritik mehr zu retten,
als zu retten ist. Helden stößt man eben nicht vom Podest. So erhebend
es ist, mit Böhmes eleganter Sachlichkeit mitzudenken, so quälend sind
die zwar angelegten, aber nicht ausgeführten Fluchtlinien. Die
Feststellung, dass der Repräsentationszwang qua eigener Homepage der
Logik der Warenästhetik folgt, ist für einen 2004 entstandenen Textteil
visionär. 2016 hätte ein Weiterdenken in Richtung Smartphone und
Social Media notgetan.
FALTER 25/2016 vom 24.06.2016 (S. 30)
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