Bericht über eine Beziehung mit Ablaufdatum
Gut ein Jahr
nach seinem Tod erreicht uns der letzte Roman des großen spanischen
Autors Rafael Chirbes (1949–2015). Glücklicherweise handelt es sich um
keine Nachlassfledderei, sondern ein abgeschlossenes Projekt, das
Chirbes seit 1996 umtrieb.
Anders als in seinen letzten großen Romanen „Krematorium“ und „Am Ufer“,
in denen er der Gegenwartsgesellschaft Spaniens auf den Zahn fühlte,
spielt „Paris-Austerlitz“ in einem sehr intimen Setting. Der junge
Ich-Erzähler erinnert sich an seine erloschene Liebe zum alternden
Arbeiter Michel. Als Spross einer wohlhabenden Familie war er aus Trotz
und Freiheitsliebe von Madrid nach Paris geflüchtet, um dort als Maler
zu reüssieren. Doch bald ging ihm das Geld aus und er rettete sich –
halb aus Liebe, halb aus Not – in Michels Wohnung und Bett. Sein Bericht
umkreist den gemeinsamen Alltag und wird dabei in feinsten
Verschiebungen von der Erinnerung zur Rechtfertigung, von der Erzählung
zur Beichte.
Chirbes beschreibt schnörkellos und präzise das vergehende Gefühl des
Malers für Michel, was zweifellos in kausaler Verbindung zu den
eintreffenden Zuwendungen aus Madrid und dem raschen Verfall des
Geliebten an einer ominösen Krankheit steht. Selbst wenn der Autor
minuziös den Ekel angesichts des gesundheitlichen Zustands des
Fabrikarbeiters thematisiert, ist sein Blick an keiner Stelle kalt:
„(D)ie zerbrechlichen Beine, wie Schilfrohr, umhüllt von gegerbtem
Leder, haben nichts mit dem reifen, kräftigen Mann zu tun, den ich
liebte, der mir Lust bereitete – und dem ich Lust bereitete –, fast ein
Jahr lang.“
Chirbes arbeitet mit subtilen Zwischentönen, lässt seinen Erzähler sich
mit fortschreitendem Tasten selbst entlarven und erkennen. So gibt
dieser zu, dass es sich bei seinem Leben mit Michel um eine romantische
Farce handelte, „um eine Darstellung von Armut, die es darauf absah,
seine Empfindlichkeit nicht zu verletzen“. Meisterhaft führt Chirbes
vor, wie sich der junge Maler im Schreiben seiner früheren Gefühle
klarer wird, aber seiner Erzählung doch nie zu trauen ist.
FALTER 50/2016 vom 16.12.2016 (S. 36)
Rétablir l'original