Wutbürger, unschuldige Täter und schuldige Opfer
Fernsehgeschichte: Der Philosoph Alfred Pfabigan legt eine fulminante Kritik der beliebten Sonntagabend-Serie „Tatort“ vor
Was machen Sie sonntagabends um 20.15 Uhr? Wenn die Antwort „‚Tatort‘
schauen“ lautet, befinden Sie sich mit bis zu 26,57 Millionen Menschen
(Zuseherrekord 1978) in guter Gesellschaft. Allerdings müssen Sie sich
dann von Alfred Pfabigan den Vorwurf gefallen lassen, ein
„zivilisatorisch gezähmter Wutbürger“ zu sein und in ihrer Freizeit
Ermittler anzuglotzen, die als „Wiederkäuer das Dosenfutter ihrer
Leitmedien“ reproduzieren.
Frechheit, denken Sie? Dann sollten Sie sich die Zeit nehmen und „Mord
am Sonntag“ lesen, denn der Vorwurf des Konformismus ist noch der
harmloseste Teil von dessen Thesen zum deutschen Polizeikrimi. Der
Philosoph ist nämlich der Meinung, dass besonders der „Tatort“
inzwischen ein „inoffizielles Regierungsorgan“ darstellt.
Das meint er aber nicht polemisch, sondern argumentiert aus der
Produktionssituation heraus: Der staatlich produzierte Polizeifilm setze
eine gesellschaftlich akzeptable Form von Verbrechen und Sühne durch.
Soll heißen: „Tatort“ und Konsorten inszenieren in Serie einen
politischen Konsens, der sich auf den ersten Blick nicht mit dem
sozialkritischen Selbstverständnis der Polizeiserien deckt.
Pfabigan weist auf die Unterschiede in amerikanischen und
deutschsprachigen Krimiserien hin. Dort naturwissenschaftlicher
Positivismus, spannungsgeladene Handlung, emotionale Ermittler und
Täter, die sich mehrheitlich zum Bösen bekennen. Hier
psychologisierendes Suchen nach dem Motiv, endlose Alltagshandlungen,
abgeklärte Kommissare und eine Darstellung, die tendenziell schuldige
Opfer und unschuldige Täter suggeriert.
In den stärksten Passagen weist Pfabigan die konsequente Persistenz von
nationalsozialistischen Einflüssen auf deutsche Polizeiserien nach,
argumentiert am Personal und den Arbeitsbiografien etwa von Alfred
Weidenmann und Heribert Reinecker. Weidenmann war Leiter der
Hauptabteilung Film in der Reichsjungendführung. Später erfand er die
Figuren „Derrick“, den „Kommissar“ und führte Regie beim „Alten“.
Reinecker schrieb in der Propagandakompanie der Waffen-SS. Nach 1945 war
er erst als Drehbuchautor für Edgar-Wallace- und Karl-May-Filme tätig,
später für den „Kommissar“ und „Derrick“. Ähnliches gilt für Jürgen
Roland, den Erfinder des „Tatort“-Vorgängers „Stahlnetz“.
So entsteht das Bild eines Netzwerks, das praktisch in jeder Krimiserie
bis ins Jahr 2000 federführend war. Die zweite, nicht minder luzide
Diskussion des Verhältnisses zwischen NS-Ideologie und „Tatort“ setzt
Pfabigan mit der Analyse der schuldigen Opfer und der schuldlosen Täter
ins Werk. Opfer, die im Nachhinein zumindest moralisch schuldig
gesprochen werden, und Täter, die sich als verkappte Mutige erweisen.
Nicht von ungefähr erinnert diese Strategie Pfabigan an die politische
Kommunikation Jörg Haiders.
Freilich ist er klug genug, dieses Begehren nach moralischer
Hintersinnigkeit und Zweideutigkeit nicht allein der Psyche der
deutsch-österreichischen Tätergesellschaften festzumachen. Er ist auch
flugs dabei, allgemeine Beobachtungen zur Ästhetik der Gewalt
anzustellen, eine Geschichte der Obduktion zu skizzieren und
„Scheherazade“ zum Modell des seriellen Erzählens im Film zu
stilisieren.
Hier wird der Emeritus selbst Opfer der „Ästhetik der Beiläufigkeit“,
die er dem „Tatort“ attestiert. Dieser kranke daran, dass er unentwegt
Einschübe (Sequenzen ohne Bedeutung für die Handlung) einflechte, was
der Philosoph herrlich maliziös an den endlosen Diskussionen über
Currywurst illustriert.
Pfabigan tappt in dieselbe Falle, wenn er unvermittelt Foucault,
Althusser, Bourdieu usw. heraufbeschwört, ohne die Relevanz für das
Thema plausibel zu machen.
Warum jeder Bildschirmmord ausgerechnet eine Aktualisierung des Traumas
des biblischen Brudermordes von Kain sein soll, mag auch nicht so recht
einzuleuchten.
Dennoch: Mit seiner Beschlagenheit in der Geschichte des „Tatort“
gelingt Pfabigan eine spannende Lektüre, die auch die jüngste
Entwicklung der Lokalepisoden kommentiert und um Pointen nicht verlegen
ist.
FALTER 41/2016 vom 14.10.2016 (S. 53)
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