Reichlich Baklava in Baku
In ihrem Debütroman befasst sich Verena Mermer mit den fast vergessenen Protesten der Zivilgesellschaft in Aserbaidschan
Anfang des Jahres 2011 begannen Bilder und Berichte von Aufständen in
die neuen und alten Medien einzuwandern. Die Berichte über widerständige
Bürger, die auf öffentlichen Plätzen versammelt gegen die autoritären
Regime der arabischen Welt demonstrierten, überschlugen sich.
In Tunesien, Libyen, Ägypten und Syrien schien sich die Geschichte
gewaltsam zu entladen. Wer aber erinnert sich an die Proteste in der
aserbaidschanischen Hauptstadt Baku im Februar 2011, die von den
ägyptischen Demonstranten am Tahrir-Platz inspiriert waren?
Die junge Autorin Verena Mermer hat den niedergeschlagenen Protesten ein
Denkmal gesetzt und ihren Debütroman „die stimme über den dächern“ in
diesem Umfeld angesiedelt.
Das Personal des schmalen Bandes wird im Wesentlichen von zwei Pärchen
gebildet, die zusammen eine WG bewohnen. Alle vier Figuren weisen aus
dem erzählten Baku hinaus: Die Lehrerin Nino und der ewige Student Ali
verweisen auf das Liebespaar aus Kurban Saids „Nino und Ali“, der Arzt
Che mit seiner „argentinischen oder kubanischen“ Staatsbürgerschaft ist
nach dem ikonischen Comandante, die Schauspielerin Frida nach der
Schmerzensmalerinnenmutter Kahlo modelliert.
Dergleichen historische und intertextuelle Bezüge spielt die Autorin ab
der ersten Seite offen aus, auf der wir neben je einem Motto von Said,
Guevara und Kahlo auch eines von Bulgakov finden. Den Lesern bleibt es
erspart, versteckte Zitate entschlüsseln zu müssen.
Che und Frida sind Hybride aus ihren historischen Vorlagen und aus Twens
mit den üblichen Jungemenschenproblemen, die sich zwischen Wohnung, Job
und sentimentalen Verstrickungen abspielen. Von Guevara und Kahlo heißt
es, sie seien „schon tot, sie bringen trotzdem noch die chronologie der
erzählung durcheinander“.
Typografisch gibt sich der Roman einen experimentellen Anstrich:
Textblöcke sind mit kursiv gesetzten inneren Monologen durchsetzt, bei
denen jeweils in Klammer der erlebende Protagonist angegeben wird.
Dieses Versprechen auf innovative Gestaltung wird erzählerisch
allerdings nicht eingelöst. Die erste, bemerkenswert ereignisarme Hälfte
des Buches widmet sich dem Ort des Geschehens und bemüht dabei
reichlich Lokalkolorit. In diesem deprimierenden Baku wird reichlich
„baklava“, „dolma“, „kebab“ und „khachpuri“ verzehrt, und man fährt mit
„ladas“ und „maschrutkas“.
Sprachlich schwankt „die stimme über den dächern“ zwischen äußerst
gelungenen Bildern und Patzern in der Beschreibungskunst: Pointierten
Sätzen über schwule Liebschaften während des Militärdienstes („dort
konnten selten zwei einander ort sein, noch seltener: sich umarmen oder
schnellen sex haben hinter den olivgrünen oder khakifarbenen türen“)
stehen solche gegenüber, bei denen es der Autorin die Poesie vollends
verschlagen hat („in emotionalen angelegenheiten denkt er meist gar
nicht, sondern horcht auf sein gefühl“).
Und genauso durchwachsen geht es weiter. Die vier Protagonisten nehmen
zwischen vielen gerauchten Zigaretten und berauschenden Getränken an den
Demonstrationen teil und bekommen die Repressionen des Regimes zu
spüren. Ali wird für einige Zeit inhaftiert, ob er zurückkehren wird,
bleibt für die anderen lange ungewiss. Nino verliert ihre Stelle als
Lehrerin, alle werden überwacht.
Viele Passagen lesen sich wie die schnörkellose Inhaltsangabe der
Handlung, die sie erzählen: „nach mitternacht gehen sie zu bett,
frühmorgens wecken sie die geräusche des bäuerlichen lebens. auf der
terrasse wird gefrühstückt, dann nehmen sie abschied.“
Diese Absenz jeglicher erzählerischen Verve ist allerdings keiner
kritischen Reflexion der Grenzen von Sinnvermittlung geschuldet, sondern
lediglich einer irregeleiteten Ambition, die bemühte Bilder
hervorbringt. Talent beweist die Autorin in jenen Passagen, in denen es
ihr gelingt, eine diffus-gespenstische Stimmung zu erzeugen, sodass die
Paranoia der Figuren auch den Leser erfasst.
FALTER 41/2015 vom 09.10.2015 (S. 26)
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