06.11.2015
Viele türkische Bürger schätzen ihren Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan als einen charismatischen, politischen Führer, der die Türkei in eine positive Zukunft lenkt. Würden Sie das unterschreiben?
In keinster Weise (lacht). Erdoğan ist ein Scheinriese. Er ist verantwortlich für Eskalationen und Unfrieden im Land.
Erdoğan hat den Kurden-Konflikt eskalieren lassen, indem er einseitig den Friedensprozess beendet hat. Er hat eine verfehlte Nahost-Politik zu verantworten. Er unterstützt islamistische Terrorgruppen und stachelt Spannungen im Land eher an, anstatt sie zu befrieden.
Er unterstützt den sogenannten Islamischen Staat. Die Kämpfer wurden jahrelang medizinisch behandelt. Er hat internationale IS-Kämpfer ungehindert nach Syrien passieren lassen. Die konnten ungehindert rein und raus. Aber es geht auch um direkte Waffenhilfe Erdoğans an die islamistische Terrororganisation Ahrar Al-Sham in Syrien. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet, dass Ahrar Al-Sham verantwortlich ist für die Ermordung hunderter unschuldiger Zivilisten.
Natürlich hätten mich mehr Stimmen für die pro-kurdische Partei HDP gefreut. Nach dem Bombenanschlag von Ankara hat die HDP Wahlkampfveranstaltungen abgesagt, weil ihre Sicherheit einfach nicht mehr gewährleistet war. Mit dem Sieg der AKP habe ich gerechnet. Erdoğan und die AKP haben ein Klima der Angst verbreitet und es damit geschafft.
Der Besuch der Bundeskanzlerin hat Erdoğan leider kurz vor den Wahlen den Status eines international geschätzten Politikers eingebracht. Das war auch eine Wahlkampfhilfe. Zum Thema Flüchtlinge: Erdoğan ist meiner Meinung nach kein Partner für die Bundesregierung. Ja, man muss mit ihm reden, aber er und seine Politik sind eine personifizierte Fluchtursache.
Erdoğan ist eine Ursache für die Flucht von tausenden Menschen: Er bewaffnet islamistische Terrormilizen in Syrien, die Massaker anrichten und daraufhin Menschen zur Flucht treiben. Außerdem haben die Flüchtlinge in der Türkei dort nicht die Möglichkeit, die Sprache zu erlernen. Die dürfen nicht zur Schule gehen und sind gezwungen, illegal zu arbeiten. Die Integration wird verhindert und sie leben dort unter elendigen Bedingungen.
Im Zuge der Verhandlungen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei steht eine Einstufung der Türkei zum "sicheren Herkunftsland" zur Debatte. Ihrer Meinung nach ist das Land dann wohl auf keinen Fall ein sicheres Herkunftsland, oder?
Nein, natürlich nicht. Ein Land, in dem Krieg geführt wird gegen Oppositionelle und gegen Kurden, in dem Ausgangssperren und Ausnahmezustände herrschen, Fernsehsender von Schlägertrupps der Regierungspartei AKP gestürmt und Razzien durchgeführt werden, in dem Journalisten um ihr Leben bangen müssen, ist nicht sicher.
Ich glaube, dass es wichtig ist, wie der Westen - insbesondere die Bundesregierung - darauf reagiert, damit sich bezüglich Menschenrechten, Demokratie und Presse- und Religionsfreiheit möglicherweise etwas ändert.
Die Kriterien für eine Aufnahme in die EU müssen einfach eingehalten und umgesetzt werden. Demokratie und Menschenrechte werden seitens der türkischen Regierung mit Füßen getreten und trotzdem machen die EU und Bundesregierung gemeinsame Sache mit Erdoğan.
Aber ein Staatspräsident der im Juli nach den Parlamentswahlen erklärt, dass das Wahlergebnis ein Fehler ist und das Wahlergebnis korrigiert werden muss, zeigt doch die Verachtung gegenüber dem Parlament und der parlamentarischen Demokratie. Deshalb möchte er unbedingt eine präsidiale Diktatur einrichten. Das Parlament wird er vermutlich mehr und mehr entmachten.
Sevim Dağdelen (40) ist für die Fraktion Die Linke Sprecherin für Internationale Beziehungen. Sie ist seit 2005 Abgeordnete im Bundestag und sitzt dort im Auswärtigen Ausschuss.