Zuerst veröffentlicht in bodo.
Es ist ein grauer Novembertag, tief im deutschen Hinterland.
Ein paar Kilometer außerhalb des kleinen Örtchens Hemer im Sauerland
liegt eine ehemalige Militärkaserne, nur durch eine Straße vom
ehemaligen Truppenübungsgelände getrennt. Einige hundert Meter weiter
grast eine einsame Kuh. Soldaten schlafen in den Baracken schon länger
nicht mehr, 2007 hat die Bundeswehr den Standort Hemer aufgegeben.
Während auf anderen Teilen des Kasernengeländes 2010 die
Landesgartenschau stattfand, wohnen in den Baracken neben dem ehemaligen
„Standortübungsplatz“ nun Flüchtlinge.
Einer
von ihnen ist Muhammad Tamim, der seit 2012 aus dem syrischen Yarmouk
auf der Flucht ist. Yarmouk ist ein Stadtteil von Damaskus und war mit
seinen über hunderttausend Bewohnern das größte inoffizielle
palästinensische Flüchtlingscamp. Viele der dort lebenden Palästinenser
flohen ab Dezember 2012 wie Tamim vor den Luftangriffen des
Assad-Regimes. Schon vor dieser Flucht galt er als Flüchtling, als
staatenloser Palästinenser. Mittlerweile sind große Teile seiner Heimat
Yarmouk dem Bürgerkrieg zum Opfer gefallen, der Stadtteil wurde
monatelang von Assads Truppen und regimetreuen Milizen belagert. Ein
Foto des Vereinte-Nationen-Hilfswerks UNRWA aus dem Januar 2014 zeigt
tausende Menschen, die zwischen zerbombten Häusern auf Hilfsgüter
warten.
Die Fotos, die Tamim auf einer Festplatte
mit nach Europa gebracht hat, zeichnen noch ein anderes Bild von
Yarmouk. Sie zeigen alltägliches Leben, Freundschaften und jede Menge
Kultur in einem lebendigen Stadtteil. Vor seiner Flucht hat Tamim vor
allem als Tänzer gearbeitet, ist in Theatern in Qatar, Ägypten und
anderen arabischen Ländern aufgetreten. Als er Fotos von einem Workshop
mit Kindern aus Yarmouk zeigt, scheint Tamim den Tränen nahe. Zu den
meisten der Kinder, denen er Singen, Tanzen und Schauspiel beigebracht
hat, hat er heute keinen Kontakt mehr. Einige von ihnen werden ebenso
wie er auf der Flucht sein. Manche werden immer noch unter
katastrophalen Bedingungen in Yarmouk leben, andere ihr Leben im
Bürgerkrieg verloren haben.
Nachdem er Yarmouk Ende
2012 verlassen hat, lebte Tamim erst eine Weile an verschiedenen Orten
in Damaskus. Acht Monate später fand er dann, wie viele andere auch, den
Weg in den Libanon. In dem weniger als fünf Millionen Einwohner
zählenden Land leben mittlerweile mehr als eine Million syrische
Flüchtlinge. Im Vergleich: Deutschland hatte bis September 2014 etwa
58.000 Menschen aus dem bürgerkriegsgeplagten Land aufgenommen.
Im tief
gespaltenen Libanon, seit mehr als einem halben Jahr ohne Staatschef,
eskalieren angesichts riesigen Flüchtlingszahl die Konflikte:
Rassistische Ausgrenzung, katastrophale Lebensumstände und
eingeschränkte Bewegungsfreiheit sind an der Tagesordnung. Trotzdem
erging es Tamim dort die meiste Zeit vergleichsweise gut. Anders als
viele Flüchtlinge bekam er sogar einen Job, digitalisierte Musik von
alten Tonbändern, „in einer richtig guten Qualität“, wie er sagt. Auch
Freunde fand er in Beirut schnell. Dort leben nicht nur viele syrische
Flüchtlinge, die Stadt ist auch eine Hochburg junger Künstler und
Kulturschaffender im Nahen Osten. Mit einem strahlenden Gesicht zeigt er
Fotos von gemeinsamen Abenden mit Freunden – und jeder Menge Arak,
einem in der Region sehr beliebten Anisschnaps. Auf den Fotos wirkt
alles ein wenig wie das junge, hippe und unbeschwerte Leben in deutschen
Studenten-WGs.
Schon in Beirut fängt Tamim an,
seine Fluchterfahrung in Videokunstprojekten zu verarbeiten. Aus
Skype-Gesprächen mit Freunden und Verwandten in Syrien und Europa
schneidet er Videos zusammen. Während er ein Video zeigt, pausiert er
kurz, zeigt eine Person, die mittlerweile im Bürgerkrieg gestorben ist.
Solche Momente sind es, die den Schein der Unbeschwertheit brechen und
den Blick auf die Tragik von Krieg und Flucht zurücklenken.
Im September 2014, nur einen Monat vor seiner Weiterreise nach Europa lernt Tamim durch einen gemeinsamen Freund die Kanadierin Charlotte Gaudreau kennen. Schnell verlieben sich die beiden. Charlotte war als Touristin in den Libanon gekommen, ursprünglich nur für einen Monat. Beirut hatte sie vorher schon fasziniert, als sie dann da war, entschied sie sich, ihren Lebensmittelpunkt aus Kanada dorthin zu verlegen. Auch sie ist ein kreativer Mensch. Sie fotografiert und arbeitet in einem Zirkus, wo sie Workshops mit Menschen aus Syrien, Palästina und dem Libanon begleitet.
Der Ort, der Charlotte so begeistert,
bietet für Tamim jedoch keine dauerhafte Perspektive. Zu schwierig ist
das Leben als einer von mehr als einer Million, die niemand so recht
haben will. Er beschließt, sein Glück in Europa zu versuchen. Durch die
Hilfe von Freunden kann er ein Visum ergattern und steigt Anfang Oktober
in einen Air-France-Flieger nach Paris. Da er in Deutschland bereits
Menschen kennt, reist er direkt weiter. Nachdem er den Antrag auf Asyl
gestellt hat, beginnt der nächste Teil seiner Odyssee – das Leben in
deutschen Flüchtlingsunterkünften. Zuerst ist er kurz in Göttingen
untergebracht, es folgen Stationen in Bielefeld, Bad Salzuflen und Unna.
In Beirut nimmt sich seine Freundin Charlotte
Urlaub und reist Tamim nach, um ihn zu besuchen. Über die Zustände und
Perspektivlosigkeit in deutschen Flüchtlingsunterkünften ist sie
schockiert. Ob Tamim mit seiner Entscheidung, nach Europa zu gehen, am
Ende glücklich wird, weiß sie nicht – „aber es war seine einzige
Möglichkeit“, sagt sie.
Mitte November wird Tamim dann mit einigen anderen Flüchtlingen aus
Unna-Massen in die „Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung“ des Landes
Nordrhein-Westfalen nach Hemer gebracht, wo er sich mit fünf anderen aus
Syrien ein Zimmer in einer Baracke teilt. Nach Unbeschwertheit sieht
hier nicht viel aus, die alten Militärbaracken erinnern an einen
Gefängnistrakt. Die Flure riechen nach Urin.
„Ich
würde so gerne Deutsch lernen, oder wenigstens irgendetwas machen“,
erklärt Tamim. Viele Möglichkeiten gibt es in der
Erstaufnahmeeinrichtung allerdings nicht. Es gibt einen Fernsehraum mit
Sitzbänken, wohl ein Überbleibsel aus der militärischen Vergangenheit.
Einen Fernseher gibt es dort aber nicht. Zum Deutschlernen greifen Tamim
und seine Zimmernachbarn auf ihre Smartphones zurück. Mit Sprach-Apps
und arabisch-deutschen Youtube-Videos versuchen sie sich wenigstens ein
paar Grundbegriffe selber beizubringen.
Als sie
abends in die riesige Kantine der Einrichtung gehen, freut sich Tamim.
„So viel Essen gab es schon lange nicht mehr“, erzählt er. Was sie sonst
meist zu essen bekommen haben? „Kartoffeln.“ Eine Möglichkeit selbst zu
kochen hatte Tamim, seit er in Deutschland ist, bislang nicht.
Ende November die nächste Station: Tamim und drei andere syrische Flüchtlinge werden aus Hemer in die Notunterkunft in der Lewackerstraße in Bochum Linden verlegt. Zwar gibt es auch hier immer noch keine Möglichkeit an Sprachkursen oder dergleichen teilzunehmen. Immerhin wurde ihm aber zugesichert, vorerst in Bochum bleiben zu können, einer Stadt mit kulturellen Angeboten, Studenten, jungen Menschen. Wie lange er tatsächlich bleiben kann, wird sich zeigen: Da er zuerst französischen Boden betreten hat, stehen seine Chancen auf einen langfristigen geregelten Aufenthalt nach geltendem EU-Recht alles andere als gut. Danach haben Flüchtlinge nur in dem Land ein Recht auf Asyl, in dem sie in die EU einreisen.
Tamims Odyssee ist also noch lange nicht zu Ende.
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