Heute nicht! Die ganze Woche ist Taxifahrer Rolando Sanjinés mit seinem weißen Toyota in Lima unterwegs gewesen. Stundenlang hat er im Stau gestanden und sich durch den zähen Verkehr gequält. Sanjinés, das kann man sagen, gehört zu den kompetentesten Taxifahrern Perus. Er kennt jede Nebenstraße, jeden Schleichweg. Hin und wieder spielt er mit im nie endenden Hupkonzert von Perus Hauptstadt. Im Vergleich zu den Kollegen setzt der besonnene Vater von zwei erwachsenen Kindern die Hupe jedoch sparsam ein. "Seit es ein Gesetz gegen unnötiges Hupen gibt, ist es eh deutlich ruhiger geworden auf den Straßen", sagt er. Deutlich ruhiger? Das kann sich der Tourist kaum vorstellen.
Wie alle anderen hat auch Sanjinés in der vergangenen Woche unzählige rote Ampeln überfahren und bei Grün gestanden, um andere durchzulassen. Er hat am Lenkrad geschwitzt und von den uralten, knatternden Bussen den Feinstaub inhaliert, der in Lima eher Grobstaub heißen müsste. Sanjinés hat manches Manöver anderer Verkehrsteilnehmer mit stummem Kopfschütteln quittiert und ist routiniert ausgewichen. Aber er hat nie die Beherrschung verloren. Der Verkehr in Lima ist eben so: chaotisch, anarchisch. Nur heute geht der Kampf ohne Sanjinés weiter. Es ist Sonntag, und der 49-Jährige, der wegen seiner sonnengegerbten Haut ein paar Jahre älter aussieht, macht frei. Und seine Freizeit verbringt er am liebsten dort, wo er wohnt: im Stadtteil Barranco.
Barranco war ursprünglich ein Fischerdorf. Vor 150 Jahren bekam es einen eigenen Bürgermeister und damit einen Platz auf der Landkarte. Immer mehr wohlhabende Limenser schätzten die Ruhe und bauten sich Häuser im europäischen Stil für die Sommerfrische. Manche Verzierung an den Fassaden rund um die Plaza de Barranco - den zentralen Platz - erinnert an Jugendstil. Später errichtete Gebäude sind so schnörkellos wie die Bauhaus-Meisterhäuser in Dessau. Auf der Plaza beeindruckt die schmucke sandsteingelbe Iglesia la Santisima Cruz von 1906. Gegenüber wird der Platz von der ehemaligen Bibliothek mit hölzernem Uhrenturm eingerahmt.
Bausünden am Pazifik
Lima wuchs im 20. Jahrhundert unaufhaltsam und schluckte auch Barranco, das heute das Künstler- und Ausgehviertel der Metropole ist. Viele Fassaden und Holzverandas sind in satten Farben angestrichen. Mit der schönen Architektur ist es jedoch schnell vorbei. Ein paar Straßen weiter, an der Steilküste, verschandeln Appartementklötze den Blick auf den Pazifik. Auch auf der anderen Seite der Plaza geht Barrancos Altstadt nahtlos über in ärmliche Flachdachhäuser, deren Stahlträger solange nackt in den Himmel ragen, bis das Geld für ein weiteres Stockwerk zusammengespart ist.
Aus einer dieser Straßen hat Maria Cutti Vento ihren rot angestrichenen Kohlenofen auf Rädern vier Blocks weit bis zur Plaza geschoben. Danach ist sie noch einmal nach Hause, um Fleisch und Gemüse mit einem Taxi heranzuschaffen. Seit acht Jahren brutzelt die 56-Jährige jedes zweite Wochenende in tadelloser Kochjacke beim "Festival de Sabor". Das Fest des Geschmacks besteht aus einer langen Reihe von überdachten Tischen und mobilen Kochstellen. Auf der Grillplatte von Cutti Vento landen Hähnchen- und Leberspieße, Koteletts und "Anticucho" - Spieße mit Herz und Innereien. Anticucho ist eine peruanische Delikatesse und die Leibspeise von Taxifahrer Sanjinés.
Für den großen Hunger bietet Cutti Vento "Criolla" an, einen Teller mit verschiedenen Fleischsorten. Als Beilagen gibt es würzige Salsas, Maiskolben, Tomaten und Salat. Die vier Tagesgerichte stellt sie auf Papptellern am vorderen Rand ihres Grills aus. "Seit zehn Jahren gibt es das Festival", erzählt Cutti Vento, während sie die ersten Maiskolben grillt. Der Markt sei eingerichtet worden, um eine Verdienstmöglichkeit für arme Frauen zu schaffen, die selbst zubereitete Speisen verkaufen.
Eine Frauendomäne ist das Festival noch immer. Die Marktwochenenden sind anstrengend: Samstags kochen und braten die Frauen von 11 Uhr bis nachts um 2. Weil es rund um die Plaza viele Bars und Diskotheken gibt, lohnt sich das Nachtgeschäft. Am Sonntag ab 14 Uhr geht es dann weiter bis zum späten Abend. "Ich würde gern jedes Wochenende auf der Plaza verkaufen", sagt Cutti Vento. "Aber die Stadtverwaltung wehrt sich dagegen. Die Restaurants im Viertel fürchten unsere Konkurrenz und üben Druck auf die Behörde aus." Die Kleinunternehmerin hat einen Catering-Service gegründet, um auch in der Woche Geld zu verdienen.