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Reportage

Eine andere Welt

Sie tragen ihre eigenen Namen, denn dies ist ihre eigene Welt. Da ist der junge Mann, der ­früher einmal, während eines Zeltlagers, in der Jurte saß und mit einem Wollknäuel hantierte, die Brille auf der Nasenspitze: Sie tauften ihn Granny, wie Grandma. Oder die junge Frau, die den anderen immer so unscheinbar schön ­erschien: Bellis, wie Bellis perennis, das Gänseblümchen. Sie hat sich den Namen auf den Unterschenkel tätowieren lassen, flächig. Und da ist Clumsy, zehn Jahre alt, getauft nach dem Tollpatsch unter den Schlümpfen. Manchmal schaut er in diese Welt, in der niemand ihn Luis ruft und ­jeden Abend ein Feuer brennt, als sei sie voller Wunder und ohne Böses.

Die Welt, in der die Menschen richtige Namen tragen, ist anders. Das weiß er.

Diese andere Welt durchquert Clumsy an einem Vormittag Ende Juli, als er das Zeltlager verlassen hat und durch Castrop- Rauxel zum Bahnhof wandert, tiefes Ruhrgebiet, vorbei am Barbershop Habibi, vorbei an der Trinkhalle. Neben ihm geht Granny, 18 Jahre alt. Auf dem Bahnhofsvorplatz kommt ihnen ein Mann entgegen, Handy am Ohr, er trägt ein weißes Unterhemd aus Feinripp, dazu Goldkette, Sonnenbrille, Tätowierungen. Die Sonne brennt vom Himmel. Der Mann bleibt stehen.

Granny und Clumsy sind die Letzten, am Bahnhof warten rund drei Dutzend Pfadfinderinnen und Pfadfinder, sie machen heute einen Ausflug in einen Kletterwald. Granny geht immer ganz hinten, wo er darauf achtet, dass niemand zurückbleibt. Häufig achtet er auf Clumsy. Clumsy sagt, er könne sich manchmal nicht so gut konzentrieren. Außerdem, sagt er, könne er keine Rolle vorwärts und keinen Handstand. Was er nicht sagt: Er ist ziemlich klug und hat den Humor eines Menschen, der älter ist als er. Er hat mal Fußball gespielt in einem Verein, in einem anderen ist er geschwommen, beides hat er aufgegeben. Er sagt, in seiner Schule gebe es Leute, die beleidigen andere in merkwürdigen Sprachen.

Der Mann im Feinripp mustert Granny und Clumsy, sieht die dunkelblauen Hemden, die aufgestickten Lilien auf den Brusttaschen, die Wappen auf den Ärmeln, dann nimmt er das Handy vom Ohr: „Sach ma! Seid ihr vonne Pfadfinder?“ Granny nickt, Clumsy hebt kurz den Kopf, sie bleiben nicht stehen. Der Mann ruft hinterher:

„Ein Glück, dass ich da nie war!“

Dann möchte Clumsy etwas wissen, so wie er oft etwas wissen möchte.

„Granny, wie lange kann man eigentlich bei den Pfadfindern bleiben?“

„So lange, wie du möchtest.“

„Auch bis ich 60 bin?“

„Ja.“

„Okay.“

Für Clumsy scheint klar zu sein, welche Welt er vorzieht. Lieber Kluft als Feinripp. Er sagt über die Pfadfinder: „Hier gehöre ich hin.“

...

erschienen in stern 36/2020, ausgezeichnet beim Hansel-Mieth-Preis 2021