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Klausur nicht geschrieben, trotzdem bestanden

Kälte-Chaos an der Uni Stuttgart: Hunderte Studenten warteten bei minus 15 Grad auf den Beginn ihrer Prüfung - doch der Hörsaal blieb zu. Als auch nach einer Stunde der passende Schlüssel nicht auftauchte, entschied die Uni: Ihr habt alle bestanden. Polizisten gratulierten per Megafon.

Kälte-Chaos an der Uni Stuttgart: Hunderte Studenten warteten bei minus 15 Grad auf den Beginn ihrer Prüfung - doch der Hörsaal blieb zu. Als auch nach einer Stunde der passende Schlüssel nicht auftauchte, entschied die Uni: Ihr habt alle bestanden. Polizisten gratulierten per Megafon.

Paul, 20 und Student der Luft- und Raumfahrtstechnik, hatte lange für die Klausur "Höhere Mathematik I für Ingenieurstudiengänge" gelernt - schließlich ist sie die Voraussetzung für die Hauptprüfung im September. Um nicht zu spät zu kommen, stand Paul am Samstagmorgen schon um 8.40 Uhr vor einem Gebäude der Uni Stuttgart in der Innenstadt. Paul war nicht der Erste, obwohl die Klausur erst um 9 Uhr beginnen sollte, erzählt der Student. Mit ihm warteten gut 300 Studenten bei rund minus 15 Grad. Sie sollten vergeblich warten - und trotzdem bestehen.

Ein Kunststück, über das sich einige Stuttgarter Studenten freuen, viele sich aber vor allem ärgern. Daher steht auch nicht Pauls echter Name im Text, denn er fürchtet den Zorn seiner Kommilitonen.

"Wir wollten ja alle schreiben", sagt er. "Deswegen haben wir gewartet." Die Klausur "Höhere Mathematik I für Ingenieurstudiengänge" sollten an diesem Tag eigentlich rund 2500 Studenten schreiben, verteilt auf ein Dutzend Gebäude der Uni. Während die anderen schon schwitzten, blieb der Zugang zum Hörsaal M12.01 in der Azenbergstraße verschlossen. Paul und seine Leidensgenossen warteten. Und warteten. Nach einigen Minuten flüchteten sich die ersten in den Vorraum einer Bank, allerdings fanden dort nur 20 Leute Platz. Nach einer Dreiviertelstunde warteten die Studenten immer noch.

"Verkettung unglücklicher organisatorischer Umstände"

Drei Tage nach der Klausur versuchte die Uni Stuttgart in einem Brief die missliche Lage zu erklären: "Eine Verkettung unglücklicher organisatorischer Umstände hat dazu geführt, dass es nicht möglich war, den passenden Schlüssel für einen als Prüfungsraum vorgesehenen Hörsaal in der Azenbergstraße zu erhalten." Schon vor längerer Zeit seien die Schlösser ausgetauscht worden und nun sei der falsche Schlüssel am falschen Ort gewesen.

Am Samstagmorgen erfuhren die wartenden Studenten nichts davon. Sie wussten nicht, was zu tun oder wer verantwortlich ist; sie wussten nur, sie brauchen den Schein. "Weil niemand gesagt hat, ob wir gehen können, haben wir ausgeharrt", sagt Paul. Einige junge Frauen litten besonders unter der Kälte. "Ein Mädchen saß auf dem Boden und hat ziemlich stark gezittert. Deswegen hat auch jemand einen Krankenwagen gerufen." Sanitäter hätten mehrere Studentinnen versorgt. Eine Uni-Sprecherin bestätigte, dass zwei Studentinnen im Krankenhaus versorgt werden mussten. Dann gesellte sich auch noch eine Polizeistreife hinzu. Später hätten die Beamten den Studenten durchs Megafon zur bestandenen Prüfung gratuliert, schreibt ein Mitglied der Facebook-Gruppe "Höhere Mathematik", in der viele Stuttgarter Studenten Mitglied sind.

Gegen 10 Uhr, eine Stunde nach offiziellem Klausurbeginn, kam endlich ein Schlüssel am Gebäude an. Wer ihn gebracht hat? Die Studenten wissen es nicht. Auch die Uni Stuttgart kann oder will nicht sagen, wer den Schlüssel brachte. Allerdings passte der Schlüssel nur zu einer Seitentür des Gebäudes, der Hörsaal blieb verschlossen. Die Studenten warteten im Warmen weiter.

Durchgefallene Studenten drohen mit Anwalt

Dann telefonierte ein Tutor mit dem Fachbereichsleiter Mathematik, Markus Stroppel, und der hatte frohe Kunde: Die Prüfung müsse nicht mehr geschrieben werden, alle hätten bestanden. Eine Entscheidung, die bei den Stuttgarter Studenten nun für viel Wirbel und einigen Unmut sorgt: "Nichts gemacht und doch geschafft...", schreibt eine Studentin in der Facebook-Gruppe "Höhere Mathematik". "Wenn es am Samstag 35°C gehabt hätte, hätte Stroppel den Studenten in selber Situation dann auch den Schein geschenkt, weil sie schwitzen mussten?", beschwert sich ein anderer. "Euer Neid kotzt mich an", schreibt ein Dritter.

Vor allem die durchgefallenen Studenten reagierten entrüstet. "Die drohen teilweise sogar mit einem Anwalt", sagt Paul. Der 19-jährige Felix saß am Samstag in einem der offenen Hörsäle und schrieb mit. Er findet die Reaktion gerechtfertigt. Wer einfach so bestanden hat, könne mit viel weniger Druck in weitere Klausuren gehen. "Gerecht wäre, wenn wenigstens niemand durchgefallen wäre."

Die Uni Stuttgart sieht das ganz anders und erklärt in ihrem Brief vom Dienstag: "Eine Schlechterstellung derjenigen Studierenden, die die Klausur ordnungsgemäß schreiben konnten, gegenüber den Studierenden, die am Schreiben der Klausur gehindert waren und denen das Ablegen der Scheinklausur erlassen wird, ist für uns nicht erkennbar, auch wenn manche unter Ihnen dies subjektiv vielleicht anders empfinden."

Ein Freifahrtschein ist die von einigen so glücklich und untätig bestandene Klausur nicht. Denn sie ist, zusammen mit einer zweiten Zulassungsklausur, Voraussetzung für die Teilnahme an der Hauptprüfung im September. Weil die verkorkste Mathe-Klausur auch als Selbsttest für die Studenten gedacht ist, ob sie schon gut genug für die große Prüfung vorbereitet sind, kann sie allerdings mehrmals wiederholt werden.

In einer Ansprache vor Studenten am Montagmorgen, die in der Facebook-Gruppe "Höhere Mathematik" nachzuhören ist, bat Fachbereichsleiter Stroppel um Verständnis und entschuldigte sich für die Schlüsselpanne. Er hoffe aber, sagte er scherzhaft, dass nun niemand mit dem Gedanken spiele, die nächste Prüfung zu sabotieren. Für den Fall werde man nämlich einen ausgefeilteren Notfallplan haben. Dann wird vermutlich zumindest der eisige Winter vorüber sein. Falls nicht, gilt das Wort der Stuttgarter Universitätskanzlerin Bettina Buhlmann: "Wir werden dafür sorgen, dass sich dies nicht noch einmal wiederholt."



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