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Die Menschenrechte müssen warten

Viele junge Geisteswissenschaftler sind frustriert, weil sie bei Stiftungen und in der Politik wenig bewegen können. Gezielt bewerben sie sich bei Unternehmensberatungen - und nutzen diese als Sprungbrett für ihre weitere Karriere.


Christina Lein hat viele Praktika absolviert. Im Europäischen Parlament arbeitete sie an Themen zum europäischen Arbeitsmarkt und den Bildungssystemen, im Bundestag beschäftigte sie sich mit humanitärer Hilfe und Menschenrechten. Zu diesem Zeitpunkt studierte sie Politik und Literatur in Mannheim. Im öffentlichen Bereich, hoffte Lein, könne sie Dinge anpacken, Verantwortung übernehmen. Die Themen passten zu ihren Studienfächern und Interessen, auch die Arbeitszeiten waren angenehm. Nur eines ließ die Sechsundzwanzigjährige zweifeln: Wirklich etwas bewegen konnte sie hier nie. Aus Neugier nahm sie an einem Kamingespräch von McKinsey zur Finanzkrise teil. Die Referentin erzählte auch von ihrem eigenen Karriereweg und dem Alltag als Unternehmensberaterin und Mutter. Eine Powerfrau, dachte sich Lein - und bewarb sich nach ihrem Master an der London School of Economics bei der Unternehmensberatung.

Für Thomas Fritz ist es selbstverständlich, dass Unternehmensberatungen nicht nur für BWLer, sondern auch für Geisteswissenschaftler attraktive Arbeitgeber sind. Der Verantwortliche für das Recruiting von McKinsey & Company in Deutschland ist überzeugt, dass das Unternehmen die Bedürfnisse der sogenannten Generation Y gut bedienen kann. Dahinter verbergen sich all jene junge, hochqualifizierte Absolventen, die hohe Ansprüche an ihren Arbeitgeber stellen und dabei nicht mehr bereit sind, viele Überstunden zu leisten. „Nirgends sonst kann man so viel lernen", sagt Fritz. Die Generation Y will aber nicht nur lernen, sie fordert von den Arbeitgebern auch sinnstiftende Projekte, will etwas bewegen. Das ist in Unternehmensberatungen gut möglich: In kaum einem anderen Beruf kommt man in so jungem Alter schon mit Entscheidungsträgern zusammen und kann ihr Verhalten beeinflussen.

In der Branche sind unorthodoxe Arbeitszeiten üblich

Doch die Sache hat eine Kehrseite: Für Berufseinsteiger sind Arbeit und Karriere längst nicht mehr alles im Leben. Flexibilität und viel Freizeit stehen weit oben in der Prioritätenliste. Eine Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young hat ergeben, dass für 56 Prozent der Befragten das Wechselverhältnis zwischen Arbeiten und Leben das wichtigste Kriterium bei der Arbeitgeberwahl ist. Kann das eine Unternehmensberatung leisten? Eine Branche, die sich seit je durch unorthodoxe Arbeitszeiten und einen hohen Leistungsdruck definiert?

Christina Lein war positiv überrascht. Gleich in ihrem ersten Jahr bei McKinsey reiste sie für einige Wochen nach Neuseeland, um Urlaub zu machen. Bis zu zwei Monate kann sich jeder Mitarbeiter im Jahr zusätzlich zum Jahresurlaub für persönliche Projekte freinehmen. Das geht unbürokratisch, ohne Angabe von Gründen. Gut ein Sechstel aller Mitarbeiter nutzt das Angebot, bei der relevanten Gruppe der jüngeren Berater sind es wesentlich mehr.

Immer häufiger fragen Bewerber nach Sabbaticals

Der Berateralltag besteht nicht nur, wie von vielen befürchtet, aus dem Verordnen von Sparprogrammen. Ihre Lieblingsthemen muss Lein nicht missen: Neben Unternehmen berät McKinsey auch Institutionen, Organisationen und Länder. Als „Fellow" kann sie außerdem nach zwei Jahren bis zu drei Jahre Auszeit nehmen, um eine zusätzliche Qualifikation zu erreichen - ein Jahr davon bezahlt. Viele promovieren in dieser Zeit. Auch Lein hat sich bereits entschieden, sie strebt einen MBA mit dem Schwerpunkt Social Entrepreneurship an.

Persönliche Auszeiten spielen mittlerweile bei allen großen Unternehmensberatungen eine wichtige Rolle. „Vier Wochen länger Urlaub ist kein Problem", sagt Per Breuer, Personalchef bei Roland Berger Strategy Consultants. Immer häufiger werde er in den Bewerbungsgesprächen gefragt, wie schnell man denn ein Sabbatical nehmen könne. So homogen, wie die Generation Y immer beschrieben werde, sei sie aber nicht. Geistes- und Sozialwissenschaftler beispielsweise seien schwerer zu überzeugen, dabei hätten gerade diese die Chance, bei einer Unternehmensberatung interdisziplinäre Themen anzupacken, sagt Breuer. Und die Erwartungen der Bewerber seien mitunter widersprüchlich. Eine steile Karriere und viel Freizeit passe bei keinem Unternehmen zusammen.

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