Noch vor 15 Jahren hätten viele Taiwaner es für wahrscheinlicher gehalten, dass der nächste Krieg dieser Rangordnung in Taiwan oder an der Grenze zu Nordkorea ausbricht und nicht in der Ukraine. Ich glaube jedoch an Murphy's Law: Was schief gehen kann, wird eines Tages schief gehen. Das galt für Hongkong und es gilt auch für eine Invasion aus China. Die Frage ist nur, wann es soweit sein wird.
Was auf der Krim passiert ist, könnte sich auf ähnliche Art auch in Jinmen abspielen, einer Inselgruppe, die zum Großteil zu Taiwan gehört, geographisch aber näher am Festland liegt. Viele Menschen dort fühlen sich der Volksrepublik näher. Wie die pro-russischen Bewohner auf der Krim könnten sie China als Vorwand dienen, eine Invasion zu rechtfertigen.
Als Diktator ist Putin für Xi Jinping das perfekte Vorbild. Putin hat die Sanktionen von Anfang an mit einkalkuliert. Sie fallen zwar härter aus als jene gegen chinesische Kader in Hongkong, aber viele Taiwaner denken, ebenso wie die Menschen in der Ukraine, dass Sanktionen nicht zur Abschreckung ausreichen. Wir beobachten, dass die westlichen Länder keine direkte militärische Hilfe in Form von Truppen für die Ukraine leisten, sondern allenfalls Kriegsmaterial liefern. Der Konsens im Westen lautet: Das ist alles, was man tun kann.
China wird es viel schwerer fallen, Taiwan einzunehmenJetzt wo viele Taiwaner sehen, dass weder die USA noch Großbritannien der Ukraine militärisch beistehen, versucht die Regierung, die Menschen zu beruhigen. Man dürfe die Situation in Taiwan und jene in der Ukraine nicht zu sehr vermischen. Taiwan sei geopolitisch wichtiger als die Ukraine. Wenn Taiwan fällt, fehlt den USA ein wichtiger Stützpunkt im pazifischen Raum. So kommunizieren das auch die meisten Medien und Meinungsführer. Zudem sieht es so aus, als könne Russland diesen Krieg nicht so einfach gewinnen wie gedacht. Und das, obwohl die russischen Kämpfer nicht einmal eine Meerenge oder ein anderes natürliches Hindernis zu überwinden haben. Deshalb sind viele Taiwaner der Meinung, dass es China viel schwerer fallen wird, Taiwan einzunehmen.
China könnte zwar mit gezielten Raketenangriffen die Infrastruktur lahmlegen und die größtmögliche Zerstörung anrichten. Die Insel zu kontrollieren, wird dagegen eine erhebliche Herausforderung, da die Menschen Widerstand leisten würden. Aber wie die Ukraine ist Taiwan kein Mitglied irgendeines internationalen Sicherheitsbündnisses. Im Gegensatz zur Ukraine ist Taiwan noch nicht einmal Mitglied der Vereinten Nationen. Wir haben zwar ein verpflichtendes militärisches Training, aber das ist nicht sehr strukturiert, und nur die Gesündesten werden eingezogen. Ich denke aber, dass die meisten Taiwaner sich wie in der Ukraine auf die ein oder andere Weise zur Landesverteidigung bereitstellen würden. Es ist möglich, dass die Menschen dann Dinge tun, die sie sich jetzt noch nicht vorstellen können. Wie in Hongkong: Wenn du den Menschen da vor zehn Jahren gesagt hättest, dass sie mal einen Molotow-Cocktail in Richtung Polizei werfen würden, hätten sie das sicher nicht geglaubt.
Ich hege keine großen Erwartungen an Deutschland, wenn es um Taiwan geht. Wir dachten, nach dem Regierungswechsel würde es eine stärkere Unterstützung für uns geben. Aber obwohl Deutschland nun sogar eine grüne Außenministerin hat, ist nichts passiert. Sie erklärte nach einem Gespräch mit Chinas Außenminister Wang Yi sogar, dass man die Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen noch vertiefen wolle. Natürlich sind wir darüber enttäuscht. Aber das ist der Trend überall auf der Welt: Man redet viel, bedauert die Situation, aber handelt nicht. So konnten Diktaturen in den vergangenen 20 Jahren weltweit immer stärker werden. Aufgezeichnet von Fabian Peltsch
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