Cannibal Corpse sorgen im Berliner Postbahnhof für einen aggressiven Abend - nach dem man unmöglich aggressiv nach Hause geht.
Cannibal Corpse galten lange als der Inbegriff von allem, was jugendgefährdend ist. Auch wenn Texte von Songs wie "Meat Hook Sodomy" bei dem unfassbar schnell gespielten Brachial-Death-Metal unmöglich zu verstehen sind, versuchten Politiker auf der ganzen Welt jahrelang, die Band zu verbieten.
In Australien, Neuseeland und Korea gelang es für eine Weile, in Deutschland zensierte man bis 2006 zumindest die blutüberströmten Horror-Cover. Die Fans goutieren die Brutalität dagegen als musikalisches Äquivalent zu Splatterfilmen
Außer in Russland, wo man ihnen noch letztes Jahr den Strom abdrehte, gelten Cannibal Corpse 27 Jahre nach ihrer Gründung auch bei uns nicht mehr unbedingt als die einflussreichsten Botschafter des Bösen. Vielleicht musste erst ein Festival wie das Wacken-Open-Air kommen, um der breiten Öffentlichkeit zu zeigen, dass Metaller eigentlich nur knuffige Typen mit seltsamen ästhetischen Vorlieben sind.
Zwei Tage nach ihrem Wacken-Auftritt spielen Cannibal Corpse im Berliner Postbahnhof. Es ist so heiß, dass die fünf bereits verschwitzt auf die Bühne kommen, die Haare von Sänger George "Corpsegrinder" Fisher kleben ihm wie nasses Gestrüpp auf der Stirn. Wobei "Sänger" natürlich das falsche Wort ist: bereits beim ersten Song brüllt der kräftige US-Death-Metal-Veteran so tief, das ein durchdringender, gutturaler Ton entsteht, den kritische Kommentatoren in der Vergangenheit gerne mit dem Klang einer Klospülung in Verbindung brachten.
Geprügeltes, lückenloses Zusammenspiel von Schlagzeug, Gitarren, BassAuch Song-Ansagen macht Fisher mit dieser Stimme, so dass man meistens raten muss, um welchen es sich handeln wird. Die Feinheiten einzelner Lieder spielen aber sowieso eine untergeordnete Rolle, viel wichtiger ist die Wucht, mit der die Musik auf den Körper trifft. Das in Hochgeschwindigkeit geprügelte, lückenlose Zusammenspiel von Schlagzeug, Gitarren, Bass und Brüllen ergibt eine massive Druckwelle, die einem unmittelbar in den Magen fährt und in einem schönen Zusatzeffekt auch noch den Kopf freibläst.
"Corpsegrinder" Fisher lässt seine Haare dazu rasend schnell wie einen Propeller kreisen, man sieht, das er das schon Jahre so macht, sein dicker Hals erinnert an eine Anakonda, die eine Bahnschiene verschluckt hat.
Alle Fans, die nicht wie er den Kopf im Uhrzeigersinn rotieren, haben sich in der Mitte vor der Bühne zu einem Strudel gegeneinander stoßender Menschen vereint. Einige scheinen sogar mitzusingen, die weit aufgerissenen Augen und Münder deuten daraufhin, natürlich hört man nichts, die Sound-Wand verschluckt alles um sie herum.
Es ist seltsam: manchmal ist die Musik so schnell, dass sie als durchgehender Ton stehenzubleiben scheint. Und wenn das Bühnenlicht plötzlich von rot auf grün schaltet, wirken die durch die Luft preschenden Haare im Moshpit für einen Moment wie Algen in einer starken Strömung, ruhig und fließend und irgendwie meditativ.
Natürlich haben die Kritiker nie ein Konzert von ihnen besuchtZwischen den Songs machen die Bandmitglieder immer wieder Boxenstopps, das heißt sie gehen zu den Lautsprechern, wo für jeden drei Flaschen Wasser und je ein Gatorade zur Verfügung stehen.
Songs wie "Kill Or Become" vom neuen Album " A Skeletal Domain" kündigt Fisher ausnahmsweise mit klarer Stimme an, außerdem fordert er das Publikum bei der Gelegenheit dazu auf, mit ihm im Headbangen zu konkurrieren. Er bildet sich was ein auf seinen Nacken, und das zu Recht.
Nach 80 Minuten sportlicher Höchstleistung und der vielfach geforderten Zugabe "Hammer Smashed Face" geht das Licht an. Der Boden ist glitschig und einige Besucher klatschen sich euphorisch ab. Natürlich haben die Kritiker, die vor Cannibal Corpse warnen, nie ein Konzert von ihnen besucht. Sonst wüssten sie, dass man nach einem so aggressiven Abend unmöglich aggressiv nach Hause gehen kann.