Um 6 Uhr früh endet für Meral der Traum: "Polis" ruft einer. Binnen Sekunden verbreitet sich die Warnung durch den gesamten Gezi-Park. Seit zwei Wochen hatten sich die Bewohner des Istanbuler Protestcamps auf einen Moment wie diesen vorbereitet. Jetzt stolpert Meral über die Wasserflasche vor ihrem Zelt. Sie greift Kamera und Tränengasmaske. Fehlalarm. Als es zwei Stunden später tatsächlich ernst wird, fehlt die Vorwarnung.
Durch die Straßen drängen sich zwanzig Mannschaftsbusse der Istanbuler Polizei, fünf Wasserwerfer folgen. Ein Hubschrauber kreist am Himmel. Als sich die Nachricht vom Angriff herumgesprochen hat, sticht auch schon das Tränengas in der Nase. Die 20 Jahre alte Meral studiert eigentlich Psychologie. Auseinandersetzungen mit der Polizei standen nicht auf ihrem Lebensplan.
Von allen Seiten haben Polizei-Hundertschaften den Istanbuler Taksim-Platz umstellt: in Schildkrötenformation. Die Beamten haben Gasmasken vor dem Gesicht, gepanzerte Wasserwerfer im Rücken.
Völlig überraschend schickten die Behörden an diesem Dienstag die Sicherheitskräfte auf den Taksim-Platz. Er ist seit elf Tagen in der Hand von Demonstranten, die gegen den als autoritär empfundenen Führungsstil von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan aufbegehren. Eigentlich hatte es bis zum Morgen nach Deeskalation ausgesehen: Erdogan hatte mitteilen lassen, er würde am Mittwoch mit Vertretern der Protestbewegung zusammenkommen. So richtig glauben konnte das im besetzten Gezi-Park niemand. "Warum sollte er sich mit Alkoholikern, Atheisten und Chaoten treffen?", sagte ein Demonstrant. "Nichts anderes sind wir doch für ihn." Doch die Stimmung unter den Gezi-Campern schien einigermaßen entspannt zu sein - bis die Bagger anrückten.
Gasmasken und Schwimmbrillen werden eilig verteilt
Vor allem in der Hauptstraße westlich des Gezi-Parks liefern sich Demonstranten und Polizei stundenlange Schlachten. Tränengasgranaten fliegen durch die Luft. Von der anderen Seite folgen Flaschen und Steine. Ein kaum 15-jähriger Junge mit Guy-Fawkes-Maske läuft mit ausgebreiteten Armen in Richtung der Polizei. Als er zum Wurf ausholt, wird er von Gummigeschossen niedergestreckt. Kurz darauf fängt ein junger Mann knapp daneben Feuer. Ein Molotow-Cocktail hatte sein Ziel verfehlt.
"Wenn sie es schaffen, die Barrikaden zu räumen, hält sie nichts mehr davon ab, den Park zu stürmen", schreit Kamil. Über seinem Kopf weht die schwarze Fahne der Anarchisten. "Schulter an Schulter kämpfen wir gegen Faschismus", ruft der junge Türke. Hunderte andere rufen zurück. Unter ihnen türkische Nationalisten, kurdische Separatisten und ein älteres Ehepaar, dass gerade noch geschockt am U-Bahn-Ausgang von Demonstranten aus der Tränengaswolke gerissen werden musste. Übertönt werden sie nur vom ständigen Sirenengeheul der Krankenwagen.
Neben dem Taksim-Platz im Gezi-Park werden Gasmasken und Schwimmbrillen eilig verteilt. Andere sprühen Milch in die tränengasgeschwollenen Augen der Demonstranten. Viele kauern am Boden, legen die Arme tröstend umeinander, schluchzen. "Nicht einmal in diesem Park lässt uns Tayyip unseren Traum leben", klagt Meral.
Der Platz versinkt im Tränengas
Stundenlang beteuert die Polizei ihre friedlichen Absichten: "Freunde, wir wollen nur den Platz sauber machen, ihr könnt in eurem Park bleiben," versprechen die Lautsprecherdurchsagen, die sich teilweise im Minutentakt wiederholen. Am Nachmittag wird der Park dann doch zum Ziel. Die Beamten schießen mit Wasserwerfern und Tränengasgranaten den Zugang frei, Hunderte Uniformierte strömen hinein und reißen Zelte und Stände ab.
Ein britischer Student organisiert spontan einen friedlichen Gegenprotest. Mit Erfolg: Untereinander eingehakt stellen sich mal ein Dutzend, mal Hunderte Demonstranten vor die Mündungen der Panzerwagen oder in die Schussbahn der Wasserwerfer. Von den Hängen der verwüsteten Baustelle am Gezi-Park beklatschen Zuschauer jeden Meter, den die Polizei zurückweicht - bis dann doch wieder jemand mit Guy-Fawkes-Maske einen Stein wirft und alles im Tränengas versinkt. Es kursieren Gerüchte, dass sich Polizisten in Zivil als Agents provocateurs unter die Demonstranten gemischt haben sollen.
Erdogan verkündet das "Ende der Toleranz"
Während die Straßenschlacht andauert, spricht der Premier vor seiner AKP-Fraktion vom "Ende der Toleranz". Er sucht keinen Dialog. Er sinnt auf Vergeltung. Die türkische Tageszeitung "Hürriyet" berichtet, dass am Rande der Ausschreitungen 20 regierungskritische Anwälte verhaftet wurden. Geht die Regierung jetzt schon gegen die Unterstützer der Gezi-Proteste vor? Erfahrungen im Ausschalten von unbequemen Journalisten und Oppositionellen besitzt die Erdogan-Administration ja.
Auch am Abend ziehen noch Rauchwolken in den Istanbuler Himmel. In einer Seitenstraße reißen sich Polizisten die Gasmasken vom Kopf, lassen sich schwer atmend zu Boden fallen. Auch Meral hat ihre Maske abgenommen und ihr Zelt eingepackt. In einer windgeschützten Ecke des Parks baut sie es wieder auf. Den Reißverschluss deckt sie mit Klebeband ab. "Bitte wecken, wenn Polizei kommt", fordert ein Zettel.
Und die Polizei kommt bald: Mit Einbruch der Dunkelheit rücken die Sicherheitskräfte wieder mit Wasserwerfern und Tränengassalven auf dem Taksim-Platz vor. Die Demonstranten entzünden Feuer und beschießen die Polizisten mit Feuerwerkskörpern. Sie lassen sich nicht verjagen. Aber der Gouverneur von Istanbul, Huseyin Avni Mutlu, will die Räumungsaktion durchziehen: Man werde die Operation so lange fortsetzen, bis auch der letzte Demonstrant den Platz verlassen habe.
Saat für einen echten Volksaufstand
Notarztwagen transportierten am Abend Verletzte ab. Wie viele es waren, blieb zunächst unklar. Auf Fernsehbildern waren Demonstranten zu sehen, die verletzte oder kollabierte Protestierer vom Platz schleppten. In einem Hotel wurde eine improvisierte Aufnahmestation für Verletzte eingerichtet. Der türkische Nachrichtensender NTV spricht vom Taksim-Platz als einem "Schlachtfeld".
Man kann nur spekulieren, wie es weitergeht. Der angesammelte Zorn über die gebrochenen Versprechen der Polizei könnte die Zahl der Demonstranten vervielfachen. Auch in anderen Städten wird Erdogans gefährlicher Starrsinn die Menschen verstärkt auf die Straße treiben.
Erdogan hat nicht nur alle Dialogangebote in den Wind geschlagen und die mäßigenden Töne aus seinem eigenen Lager ignoriert. Er hat Verschwörungstheorien gestreut, seine eigene Wählerschaft zum Hass angestachelt und die Spannungen in der türkischen Gesellschaft noch einmal verschärft. Das könnte die Saat für einen echten Volksaufstand sein.