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Kitaplätze in Berlin so selten wie ein Sechser im Lotto

Serie Kita-Not

130 Absagen: Die Suche nach einem Betreuungsplatz für ihr Kind wird immer schwieriger. Manche Berliner Eltern klagen deshalb.

Berlin. Drohender Jobverlust, 7500 Euro Verdienstausfall, fehlende Einzahlung in die Rentenkasse und jede Menge Anwaltskosten - das ist die bittere Bilanz, die Vivien Blum und ihr Mann mit der Berliner Kita-Krise und Tausenden fehlenden Betreuungsplätzen zurzeit verbinden. „Zwölf Monate ist unser Kind jetzt alt. Und genauso lange suchen wir bereits eine Kita.

Bislang stehen bei uns über 130 Absagen auf der Uhr und unzählige Kosten", sagt die 24 Jahre alte Mutter aus Pankow. Auch für eine vorläufige Unterstützung durch eine Tagesmutter haben sie sich beim zuständigen Jugendamt beworben. Dieses Jahr aber, so sagte man ihnen, ginge da gar nichts mehr. „Wir werden dort immer wieder abgewimmelt. Die zuständige Leiterin möchte schon gar nicht mehr mit uns reden", sagt Blum, die Angestellte beim Bürgeramt Mitte ist.

Sogar ihr Chef hat sich für sie starkgemacht, das bezirkseigene Jugendamt beauftragt, einen Betreuungsplatz zu finden. Blum musste bereits unbezahlten Urlaub nehmen. Doch ewig könne ihr Chef nicht auf seine Arbeitskraft verzichten. Ihre Angst: Die Stelle wird neu besetzt und ihr gekündigt.

Eltern pochen auf den Rechtsanspruch

Ebenso schlimm wiegt der finanzielle Verlust. Neben Verdienstausfällen und pausierenden Rentenversicherungsabgaben können die Kredite für das Auto nicht umgeschuldet werden. Laut Gesetz steht der Familie ab dem ersten Lebensjahr ihres Kindes das Recht auf einen Kitaplatz zu. Eine Anwältin wurde deswegen bereits eingeschaltet, die eine Kitaplatz-Klage prüft.

Eventuell haben sie über „gute Kontakte" ab August einen Kitaplatz in Aussicht. Sicher ist das nicht. Blum: „Selbst wenn das klappt, will ich die Verantwortlichen nicht so leicht davonkommen lassen." Der Verdienstausfall soll beim Bezirksamt eingeklagt werden. Ebenso soll die Behörde als Verursacher der Lage die Anwaltskosten übernehmen. Da diese aber nicht reagiert, landen die Rechnungen vorerst auf dem Tisch der Familie. „Deswegen müssen wir jetzt sogar unsere Ersparnisse angreifen, die wir für andere Sachen wie einen ersten gemeinsamen Familienurlaub zurückgelegt haben."

Anwaltskosten hat Katharina Mahrt (30) nicht zu tragen. Aber nicht, weil sie sich nicht wehrt. Im Gegenteil. Die Neuköllner Studentin ist eine der wenigen, die auf einen Kitaplatz geklagt haben. Aus eigener Kraft, ohne Anwalt. Keine Rechtsschutzversicherung, keine Gerichtskostenbeihilfe. Ihr anderthalb Jahre alter Sohn war ihr den Stress wert. „Ich war sicher, man kann das auch ohne Anwalt durchstehen. Zudem sollte es eine Botschaft für alle Familien sein: Wir haben einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz und frühkindliche Förderung."

Am 22. März dieses Jahres entschied das Oberverwaltungsgericht: Jeder, der klagt, soll innerhalb von fünf Wochen einen Kitaplatz zugewiesen bekommen. Im konkreten Fall zweier Kläger wurde das Land Berlin verpflichtet, „Antragstellern jeweils einen Betreuungsplatz in angemessener Entfernung" zuzuweisen. Dieser solle nicht weiter als 30 Minuten vom Wohnort entfernt sein. Am 22. ­April gab es auch im Fall Mahrt ein Urteil. Dem Jugendamt wurde auferlegt, innerhalb von zehn Tagen einen Betreuungsplatz zu finden. Den hat Katharina Mahrt auch bekommen. Allerdings über eine Stunde weg von zu Hause. Noch konnte sie dort keinen Vertrag unterschreiben. Sie hofft, ab August einen Platz in ihrer Nähe in Aussicht zu haben - einen „Sechser im Lotto", wie sie sagt. Mahrt empfiehlt jedem: „Geht über die Ämter, macht Druck und klagt notfalls. Nervige Eltern zahlen sich aus."

Viele Eltern unterschätzen die Kitaplatz-Suche

Nicht alle gehen konsequent den Weg der Klage, weiß Ann-Mirja Böhm, Sprecherin der Initiative Kita-Krise. „Viele können nicht glauben, wie schlimm die Situation wirklich ist. Wenn das allen bewusst wäre, dann würde es auch zu mehr Klagefällen kommen." Sie selbst kennt unzählige Leidensgeschichten von Eltern, die ihren Job aufgeben mussten, zum Wohle der Kinder.

Etliche davon kommen am 26. Mai zur Demonstration. Über 1800 haben sich bislang angemeldet. Die Eltern verlangen ein zentrales, digitales System, wo verfügbare Plätze angezeigt werden, sowie mehr Tagesmütter, die die hohe Nachfrage vorerst etwas abmildern können. Die kostenlose Kitabetreuung ab August sehen viele dagegen mit Sorge, da der Stadt so dringend benötigtes Geld für Investitionen und den Ausbau von Kitas entginge.

„Panikmache ist das! Wer sucht denn schon ein Platz für ein ungeborenes Kind?", dachten Katrin und Simon Dariz, als man ihnen noch während der Schwangerschaft empfahl, sich jetzt schon um einen Kitaplatz zu bemühen. Auch den Kreuzbergern war der Ernst der Lage nicht bewusst. „Wir haben das nicht für voll genommen und dachten, so schlimm kann es nicht sein." Heute ist Sohn Samuel knapp ein Jahr alt. Und bisher hat die Familie mehr als 40 Absagen auf einen Betreuungsplatz kassiert. „Zu Anfang habe ich mir noch die Mühe gemacht, Kitakonzepte durchzulesen." Mittlerweile sei ihr das egal, Hauptsache, ihr Kind werde endlich betreut, sagt die 37-Jährige entrüstet.

Kitas haben das Recht, sich Kinder auszusuchen

Denn aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Sobald Samuel drei Jahre alt ist, muss er in die Kita. Bei den meisten Trägern wurde er bislang nicht einmal mehr auf die Warteliste gesetzt. Bis 2020 seien alle Plätze vergeben. Mit viel Glück fand sie jetzt eine Tagesmutter, für die sie allerdings eine Stunde hin- und herfahren muss. Noch läuft die Elternzeit für die Mitarbeiterin einer Digitalagentur.

Nebenbei macht sie aber auch noch eine Fortbildung. Wenn sie da beschäftigt ist, gehen die Urlaubstage ihres Mannes drauf. Nicht mal die Möglichkeit zu klagen besteht wirklich, da ihr Kind durch die Tagesmutter versorgt wird. Und dieser für eine Klage absagen, ist ihr das Risiko nicht wert. Ablehnungsgründe hat sie viele erfahren. Wegen Krankheitsfällen von Erziehern, bei denen man nicht wisse, ob sie wiederkommen. Sogar aufgrund seines Geschlechtes wurde ihr Kind abgelehnt.

„Trotz dünner Personaldecke hat jede Kita das Recht, sich die Kinder aussuchen", berichtet Markus Hanisch von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Im Zuge der Heterogenität ihrer Gruppen können die Träger entsprechend ihrem pädagogischen Konzept sogar nach Ethnie und Geschlecht auswählen." Auch gebe es eine Härtefallregelung, die besagt, dass, wenn ein Geschwisterkind bereits in der Kita ist, das Jüngere vorrangig vor allen anderen Bewerbern aufgenommen wird. „Über Jahre ist das auch kein Problem gewesen. Aber in dem Moment, in dem die Plätze knapp werden, stört man sich daran", so Hanisch weiter.

Keine Hoffnungen auf einen Platz vor 2020

„Behördenwahnsinn" ist wohl das, was Patricia Garcia (34) und Ernesto Zamara (43) neben der Kitasuche am meisten zu schaffen macht. Sie kommt aus Spanien, ihr Mann aus Kuba. Beide sprechen Deutsch. Doch mit der Behördensprache haben sie noch Probleme. Ob es um das Elterngeld geht oder eine Klage auf einen Kitaplatz. Gut ein halbes Jahr ist ihr Sohn Carlos jetzt alt. Bereits in der Schwangerschaft hat Mutter Patricia wie verzweifelt gesucht und bereits damals Dutzende Absagen erhalten. „Die meinten, ich solle das Kind doch erst mal bekommen und dann abwarten", erinnert sich die Flugbegleiterin. Doch selbst jetzt, wo ihr Sohn auf der Welt ist, regnet es weiter Absagen.

Jeden Tag arbeiten die beiden Eltern aus Friedrichshain die Liste der Kitas ab, die sie von den Ämtern zur Verfügung gestellt bekommen haben. Alles in der Hoffnung, irgendwo eine freie Stelle zu ergattern. „Die meisten Kitas sagen, vor Ablauf von zwei Jahren besteht keine Chance, oder sie geben uns komplett eine Absage." Einst dachte die Familie, ihre Zweisprachigkeit sei ein Vorteil. Mittlerweile fühlen sie sich aber von den Behörden mehr und mehr diskriminiert.

Nicht einmal einen Termin beim Kinderarzt für die wichtigen Schutzimpfungen haben sie anfangs bekommen. Jetzt hat Mutter Patricia extra jemanden engagiert, der ihr bei Behördengängen hilft oder notfalls Rechtsmittel einlegt. Viel Hoffnung haben sie nicht, bis Februar einen Platz zu bekommen. Dann wird Carlos ein Jahr alt. Die Kitas aber würden eher im August aufnehmen, weil da viele in die Schule kommen. Wie sie die Zeit nun weiter überbrücken, wissen sie noch nicht. Wenn sie keinen Platz bekommen, müsste ihr Mann seinen Job als Musiker aufgeben und Patricia Vollzeit und Überstunden arbeiten. „Als Flugbegleiterin, wo du mehrere Tage in der Welt unterwegs bist, kann das bedeuten, dass ich mein Kind am Ende fast gar nicht mehr zu Gesicht bekomme."

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